Protokoll 16.11.06
Diskussion über letzte Woche: Religionskritik (Kap. 2.6.4: Systematische Kernpunkte VIII: Marx' Religionskritik)
Leitlinie: Marx als atheistischer Religionskritiker oder "post-(a)theistischer" Kritiker religiöser Formen in der Gesellschaft? Welche Rolle spielt Religion für Marx?
Stefan: Henning scheint Marx' Religionskritik vom Tisch zu wischen. Verweis auf Artikel im HKWM zu Atheismus (den Stefan nach der Sitzung rumgeschickt hat); Marx als Atheist & Religionskritiker.
Mike: H.s Position ist aber insofern interessant, als er sich v.a. mit Frühwerk & Marx' Auseinandersetzung mit den Junghegelianern beschäftigt. Durch diese Auseinandersetzung sei Marx zu seiner eigenen Position gekommen, die "post-atheistische" (Richard schlägt "post-theistisch" vor, da der Glaube an Gott keine Diskussionsgrundlage für Marx mehr ist, wohingegen der Atheismus sozusagen auch als "Glaubensform" auftritt) ist, da er das religiösen Formen entsprechende Auseinanderfallen zwischen Wesen und Erscheinung analysiert
Marx will an die "Alltagsreligion" des Kapitalismus rühren; andere (Junghegelianer) kritisieren den Himmel, Marx kritisiert die Erde.
Religion an sich ist ähnlich wie der Staat dem kapitalistischen System angehängt; d.h. wenn der Kapitalismus überwunden ist, erledigen sich Staat & Religion von allein.
Uli: Religion ist "Privatsache im doppelten Sinne", da getrennt vom Staat, aber auch für die Analyse des Kapitalismus unerheblich.
Stefan: Marx' Hinausgehen über die Junghegelianer ist aber nur denkbar, wenn dem eine Religionskritik vorausgeht. Verweis auf den Fetischbegriff.
Mike: Begriff des "Fetisch" stammt aber nicht aus dem Christentum, sondern bezeichnet in Südseereligionen ein Ding, das eine gesellschaftliche Beziehung repräsentiert.Religionskritik ist an den Staat & an Gottesgnadentum geknüpft, aber: Vielstimmigkeit des Christentums (z.B. Jesus & die Händler im Tempel) & Anknüpfungspunkte für Sozialisten vor Marx. H.s Position ist insofern interessant, als er betont, dass Marx die Alltagsreligion im Kapitalismus kritisiert. Die Frage, ob Marx Atheist ist, ist daher unerheblich.
Uli: Themen im "Kapital": Verschleierung, Auseinanderfallen von Wesen & Erscheinung (--> Henning)Marx hätte aber auch "Bauchschmerzen" mit Gottglauben, weil damit falsche Vorstellungen vom Alltagsleben verbunden sind.
Einigkeit über Hennings These, dass Marx im Kapital die "Alltagsreligion" kritisiert und "klassische" Religionskritik nicht mehr nötig hat.
(Stefan: Aber man muss betonen, dass sich Marx der Religionskritik der Junghegelianer anschließt.)"Alltagsreligion" schlechter Begriff, da Marx ihn nicht benutzt hätte; Vorschlag: "Alltagsbewußtsein"
Uneinigkeit: hat Marx Religionskritik noch nötig oder ist Religion für Marx Privatsache & kann vielleicht sogar für "progressive Sachen" im Sinne der Sozialisten genutzt werden?
Mike: H. betont, Marx würde nicht mehr auf Religion zurückgreifen wie Sozialisten vor ihm, es ist aber unerheblich, ob Marx an Gott geglaubt hat oder nicht, da seine Idee der Kapitalismuskritik nur durch die Kritik der politischen Ökonomie erreicht werden kann. Daher ist die Annahme eines "platten" Atheismus, der nicht "post-theistisch" ist, schwierig.
Richard: Keine Hinweise bei Marx, dass er sich positiv zu irgendeiner religiösen Idee geäußert hat, Henning interpretiert da was rein.
Die Frage, ob Marx Atheist ist oder nicht, ist spekulativ, das Interessante bei Henning ist aber, dass er sagt: Marx trägt die Religionskritik über sie hinaus, indem er das Auseinanderfallen von Wesen & Erscheinung aufdeckt & kritisiert.
Uli: "'Religionskritik' bei Marx heißt demnach nicht primär Kritik der Religion, sondern Kritik des religiösen Auftretens höchst weltlicher Dinge." (Henning, S. 365)Hier trifft Henning sicher Marx' Absicht, aber sagt nicht, was er unter Religion meint. Problem: Wenn Henning Religion zur "Privatsache" erklärt, lässt er etwaige Folgen für die Bewußtseinsformung aus.
Kapitel 2.1: Sozialdemokratie
Richard referiert
Erfurter Programm 1891 (ein Jahr nach der Nichtverlängerung des Sozialistengesetzes)
- bestimmt durch Bernstein und Kautsky (laut Henning "Publizisten", keine Philosophen)
- "empirizistische Missdeutung"
- was Marx als Tendenzen analysiert hatte, wird im E.P. zur Gegenwartsdeutung (S. 33: "historische Aussage als Beschreibung der Gegenwart" gedeutet).
Bspe.:
- "Verschwinden der Mittelklassen": Marx' Äußerung über das Herabfallen der Mittelklassen ins Proletariat wird missdeutet als "Verschwinden der Mittelklassen"; Marx wollte aber nicht sagen, dass die Mittelklassen verschwinden, sondern erklären, woher das Proletariat kommt. (s. Henning, S. 33)
- Freisetzung der Arbeiter: bei Marx als Tendenz beschrieben (die auch, durch Lohnsenkung & damit Erhöhung der Profitchancen & daraus folgende mögliche neue Investitionen, zeitweise umgekehrt wirken kann), im Programm als "kontinuierliche Entwicklung 'wachsender Zunahme' ".
- "Zunahme der Unsicherheit der Existenz" des Proletariat & der Mittelschichten: nachträgliche Hinzufügung von Engels, der Verelendungstheorie abschwächen wollte; dennoch viel von dieser malthusianischen Verlendungstheorie, die Marx selbst später aufgegeben hatte, drin. (Verweis auf MEW 22, S. 231: Welcher Text ist das?)
Wichtig: Unterscheidung zwischen Marx und Marxismus:
Marx hatte sich mit Malthus immer wieder auseinandergesetzt & Verelendungstheorie schließlich abgelehnt. Die frühe Sozialdemokratie prägt aber den Marxismus, auf den sich Marxisten später immer wieder beziehen.
- Monopolbildung & These von der "Naturnotwendigkeit"
Andere Fehlrezeptionen (nach Henning)
- Orthodoxie (K. Kautsky)
Einsatz des Konzepts der "Dialektik", um an marxscher Theorie festhalten zu können
- Vergesellschaftungskonzept (R. Luxemburg, W.I. Lenin)
diesem (insbesondere Rosa) scheint Henning noch ein besseres Verständnis von Marx zuzugestehen (S. 37, Fn. 17: "Das traditionelle Marxverständnis war oft angemessener als destruktive Posen späterer Seminarmarxisten.")
Diskussion
Fehlrezeption: Wieso diese Fehlrezeption(en)? Ist Hennings Vorwurf an die Theoretiker der Sozialdemokratie zu stark? Sind die Verfälschungen "absichtlich" oder Folgen einer spezifischen historischen & politischen Situation?
Uli weist hin auf die "Gnade der späten Geburt": Im Nachhinein ist es leicht, den Rezipienten (in diesem Fall v.a. Bernstein & Kautsky) ihre Fehler nachzuweisen.
SPD sollte im historischen Setting gesehen werden: 3. Bd. "Kapital" war noch nicht erschienen (wo Marx von Krediten und Kartellen spricht). Wieso kommt Bernstein zu der (laut Henning) "revisionistischen" Position?
Krise des Kapitalismus wg. Depression 1870er. Ende 19. Jh. wurde zunächst als Ende dieser Depression gesehen, Bernstein musste erklären, wieso die Depressionszyklen nicht zur Krise des Kap. führen. Daher seine (von Henning als "einseitig" bezeichnete) Theorie vom Kredit & den Kartellen als Eindämmmungsmechanismen der Krise.
also:
1. Fehler: Prognose des Zusammenbruchs (Orthodoxie)
2. Fehler: Revisionismus: da Marx in seiner Analyse (bzw. die orthodoxe Interpretation) nicht falsch liegen kann, muss der Kapitalismus ein anderer geworden sein (durch Kredite & Kartelle)
Stefan: Verständnis- und Weiterentwicklungsversuche sind jedoch legitim, kapitalistisches System ändert sich schnell (Hinweis auf China, unter marxistischen Theoretikern sehr umstritten, ob chin. ein kommunistisches oder kapitalistisches System ist. Durchaus erfolgreiche Weiterentwicklungen & Korrekuren marxscher Theorie, z.B. Regulationstheorie
Uli: Dennoch festzuhalten, dass Henning hier die Fehlrezeption korrekt wiedergibt.
Richard: Marx wollte (im "Kapital") analysieren, die Funktionsweise des Kap. verstehen & kritisieren, keine Tagespolitik betreiben. Daher vielleicht im politischen Tagesgeschäft diese Verkurzungen des Marxschen Krisenverständnisses auf Prognosen.
Sonntag, November 19, 2006
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