Sonntag, Dezember 06, 2009

ein wenig mehr ZUM SPIEL (WertSpiel)

Warum ist "Spiel" der geeignete Name für das Austauschgeschehen auf den Märkten - angefangen mit dem Tausch der Warenaustauschprodukte? Dabei geht es darum, dieses Austauschgeschehen auf seinen ontologischen (Wert-Form-)Begriff zu bringen. Es geht erst mal überhaupt NICHT darum, zu bestimmen, zu behaupten oder zu meinen, ob bzw. daß das Austauschgeschehen ein faires oder abgekartetes Spiel, ein schönes oder unfreies Spiel sei. Marxistische Kritiker von mir sind immer bloß empört zu hören, daß das Austauschgeschehen überhaupt "fair" sein könnte, ohne sich zu überlegen, warum es als Spiel überhaupt ontologisch zu begreifen ist. Zudem empören sich "Kritiker" bloß über die im Deutschen verpönten Wörter "Spiel" und "Spieler". Die Deutschen -- das unspielerische Volk schlechthin?
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Warum nicht das Austauschgeschehen "Austauschprozeß" nennen, wie Marx dies tut? Der Austauschprozeß wäre dann vom "Produktionsprozeß" begrifflich unterschieden, der dann später im begrifflichen Gedankengang vom Zirkulationsprozeß unterschieden wird. Dann gäbe es verschiedene "Prozesse" im sog. "kapitalistischen System", und man bliebe ganz sachlich-objektiv-"wissenschaftlich".

Bei der Produktion geht es um die Herstellung von Gütern. Die Herstellung steht
dem Austausch gegenüber, der sie ergänzt. Nach wertformanalytischer Einsicht wird der (Tausch-)Wert nicht im Produktionsprozeß hergestellt und dann bloß diese hergestellte "Wertsubstanz" auf dem Markt im Austauschgeschehen "ausgedrückt", sondern die Arbeitsprodukte werden erst auf dem Markt durch die Spegelung in anderen Waren zu wirklichen (actualitas, _energeia_) Tausch-Werten, die wirklich die Kraft (_dynamis_, Macht) haben, in der Tausch-Bewegung sich gegen andere Waren zu tauschen. Der Wert ZEITIGT SICH imAustauschgeschehen, d.h. in TauschVERHÄLTNISSEN.
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Bei der Herstellung hingegen geht es um die Hervorbringung eines fertigen Produkts unter der Führung eines wissenden Einblicks, d.h. von know-how. Marx kannte sein Griechisch und vor allem seinen Aristoteles, der die ontologische Struktur der Herstellung genauso beschreibt, wie Marx es wiedergibt, wenn er die "Arbeit" einer Biene von der menschlichen Arbeit (_dynamis meta logou_) unterscheidet (Met. Buch Theta).
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Bei der Herstellung geht es um einen kontrollierten, beherrschten, vorhersehbaren Prozeß, der im Endresultat eines fertigen Produkts in sein Ende kommt (_entelecheia_). Der Herstellungsprozeß ist vom Ausgangspunkt des Know-How aus beherrscht.
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Es kann nicht überbetont werden, daß das Paradigma der Herstellung seit der griechischen Philosophie das westliche Denken insgesamt durchherrscht -- auch bei Marx, sofern er auf der Suche nach dem "Wertgesetz" bzw. dem "Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft" ist. Ein Gesetz gibt eine Regel in die Hand, wodurch eine Bewegung wissend beherrscht werden kann, und sei es, daß sie lediglich VORHERGESEHEN werden kann, wie z.B. die Newtonschen Gesetze es erlauben, die Bewegung der Himmelskörper vorherzusehen, vorauszukalkulieren. Und die Newtonschen Gesetze sind das ganz große Paradigma der modernen Wissenschaften, das auch die Wirtschaftswissenschaft bestrebt ist nachzuäffen.
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Das Paradigma der Herstellung jedoch trifft nicht zu für das
Austauschgeschehen. Schon deshalb ist es irreführend, von einem
Austauschprozeß zu reden. Im Austausch gibt es zumindest zwei Ausgangspunkte, und nicht _einen_ wie bei der Herstellung. Die beiden oder vielen Ausgangspunkte des Austauschgeschehens sind die Warenhüter, die die Waren zu Markt bringen, um mit denselben zu handeln. Der Handel ist kein sicherer Prozeß mit voraussehbaren Ausgang, sondern hängt von den Entscheidungen der vielen Warenhüter ab im Wechselspiel miteinander (vgl. die Dialektik der Anerkennung bei Hegel: "Der eine tut, was der andere tut, usw."). Solche Entscheidungen, zu (ver-)kaufen oder nicht und zu welchem Tauschverhältnis (bzw. zu welchem Preis), entstehen aus der Spontanität (Kant) bzw. der abgründigen Freiheit jedes einzelnen Ausgangspunktes, die dann spielerisch aufeinandertreffen. Das Ergebnis bleibt unsicher und unvorhersehbar, bis das Geschäft wirklich (actualitas) abgeschlossen ist. Selbst wenn es "Erfahrungswerte" für das Marktgeschehen "in der Regel" gibt, können diese Erfahrungswerte auf einen Schlag auch ungültig werden.
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Aus der Gegenüberstellung zum Produktionsprozeß und aufgrund der Grundllosigkeit des Austauschgeschehens unter vielen Warenhütern nach bestimmten Regeln des Marktes, womit auch die wesenhafte menschliche Freiheit (einschl. der Unfreiheit!) mit im Spiel ist, verdient dieses Geschehen den Namen SPIEL. Der Wert, der sich aus der Spiegelung in anderen Waren zeitigt, ist somit ein Spielergebnis.
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Wie gesagt, ob das Tauschspiel fair oder unfair ist oder sein kann, ob es ein win-lose, win-win, lose-lose Spiel ist oder sein kann, steht auf einem anderen Blatt. Es muß festgehalten werden, daß ontologische Begriffe grundsätzlich auch ihre Negation mit einschließen, z.B. ein Tauschspiel kann nur unfair sein, weil es auch fair sein kann, und umgekehrt, und der Mensch kann nur unfrei sein, weil er wesenhaft ein freies Wesen ist (ein Stein kann weder frei noch unfrei sein). Eine einfache Negation als Gegenargument zu behaupten, trifft die Sache nie.
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Es wäre schön, wenn sich ein paar Nachdenkliche auf solche Gedankengänge einlassen würden, statt bloß Festgefahrenes noch einmal gedankenlos zu behaupten.

> So viel für heute. Michael Eldred, Köln, 3.12.09
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Sonntag, November 29, 2009

Dass der Wert in der Produktion entsteht und nicht erst im Austausch, wo das, was vorher entstanden ist, sich „ausdrückt/darstellt“, bedeutet aber nicht, dass er quasi als Ding mit hergestellt wird wie ein Brötchen. Die von Marx verwendeten Ausdrücke wie „Kristall“ und „geronnen“ könnten so gelesen werden, aber so kann es nicht gemeint sein. Zu denken, der Wert sei wirklich ein Ding und kein gesellschaftliches Verhältnis, das unter dinglicher Hülle versteckt ist (vgl. MEW 23: 88, Fn 27), wäre fetischartiges Denken.

Fetischform bezieht sich also darauf, dass dem Produzenten seine vergangene Arbeit als „geronnene“ Produkteigenschaft erscheint. (Kurz 1987: 104)

Allgemein gesprochen werden jeweils Prozesse, die „an sich“ gesellschaftlich sind, „für den Menschen“ (hier den Produzenten) zu etwas Wertförmigem und die widersprüchliche Einheit des „an sich“ und „für ihn“ begründet solch widersprüchlichen Ausdrücke wie „geronnene Arbeit“, „geronnene Zeit“ usw. Es geht dabei immer um eine spezifische (d.h. verkehrende) Formung eines an sich unspezifischen Sachverhalts.

Der Inhalt des Kapitels „Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“ (MEW 23: 85-108) im „Kapital“ bezieht sich auf die Ergebnisse der Wertformanalyse. Der Inhalt dieses Kapitels sollte von den eben ausgeführten Ergänzungen kaum berührt werden. Wenn Marx in diesem Fetischkapitel schreibt, dass „die spezifisch gesellschaftlichen Charaktere ihrer Privatarbeiten erst innerhalb des Austausches“ erscheinen (MEW 23: 87),...
( Stefan: Annette Schlemm, hat -- wie ich
finde -- das Problem überzeugend aufgearbeitet:
http://www.thur.de/philo/notizen/fetisch/fetisch1.htm)

Der Wert , ein Spiel?

- ein bedenklicher Artikel von Michael Eldred
Hallo Franz!



Eldred: "Der Wert läßt sich überhaupt nicht herstellen und er läßt
sich nur nach Erfahrungsregeln und nicht von einem Prinzip her
quantitativ voraussagen. Vielmehr verhält sich die Sache umgekehrt: Die Arbeit, die die Ware produziert, wird erst im Spiegelspiel des Werts als wertvoll auf dem Markt faktisch anerkannt. Der Wert hat keine Substanz, sondern als gesellschafliche Kategorie kommt er erst in einem gesellschaftlichen Reflexionsverhältnis, d.h. erst in einer
Vergesellschaftung der Ware als Ware im Spiegel der anderen Waren, zustande. Das Wertsein selbst ist ein Wertverhältnis. Deshalb ist der Wertbegriff ein Grundbegriff einer sozialen Ontologie, d.h. einer Lehre des gesellschaftlichen Seins der Menschen. "
Stefan: In vergleichbarer Form findest du genau das bei Michael Heinrich (ohne die »soziale Ontologie«).

Die Idiotie die schon Engels mit ein paar dürren Worten abzukanzeln
versuchte, aber die sich damit nicht aus der Welt schaffen ließ, ist
dass der Wert dann doch aus der Zirkulation entsteht.
Stefan: Dito das Problem bei Heinrich. Gleichzeitig darf es aber keinen Rückfall in eine substanzialistische AWT (Arbeitswerttheorie) geben. Die hat Heinrich nämlich zurecht kritisiert. Annette Schlemm, hat -- wie ich
finde -- das Problem überzeugend aufgearbeitet:

http://www.thur.de/philo/notizen/fetisch/fetisch1.htm


Engels hätte aber nicht blökend auf das FAKTUM der Produktion
verweisen sollen ("dass eine Nation verreckt, die nicht....")
sondern umgekehrt fragen sollen warum sich dann jemand überhaupt die
Mühe der Produktion antut und nach welchen Gesetzen diese Produktion
denn sonst abläuft.

Wenn sich Wert nicht produzieren ließe, gäbe es keine Produktion oder
ihre Gesetze wären unbegreiflich. Das ist wenn man so will der
"Beweis" der Arbeitswertlehre. Und wir sind seit Marx noch keinen
Flohsprung weiter was die Schwierigkeit betrifft diesen einfachen
Satz verständlich zu machen.
Stefan: Ja, ein Knackpunkt. Aber daraus kann man nicht die Gültigkeit der AWT (in ihrer substanzialistischen Ausprägung wie sie aktuell von
Cottrell/Cockshott vertreten wird) schließen. Also nix mit »Beweis«.



Ansonsten ist Eldred ein Haus von wandelnden Widersprüchen. Der Wert
lässt sich das eine Mal nicht produzieren, und dann rekurriert er
doch auf die Arbeitswerte, Das eine Mal verwandelt sich der Wert
notwendig in Kapital das die sozialen Charaktere unwiderruflich
scheidet, das andere Mal bleiben gleichberechtigte faire Spieler
übrig.

Das Blöde ist: diese Positionen sind unglaublich populär auch in der
Marx-Rezepti0n.

gute Ideen sind gefragt!

Stefan:
Meine Idee wäre nur, konsequent von einem Begriff des Werts als
gesellschaftlichem Verhältnis auszugehen (was Eldred zurecht stark
macht), dabei aber nicht in die substanzialistische AWT oder eine leere
Geltungstheorie des Werts zu kippen. Ich habe das Empfinden, dass wir
damit durchgehend bei »Verhältnisbegriffen« landen würden, mit denen
nichts mehr »dingfest« zu machen ist, sondern sich alles nur noch in
Gegensätzen als den Momenten der zu begreifenden Verhältnisse bewegt.
So ein Denken wird _nie_ populär im Vergleich zur so schlichten und
anschaulichen substanzialistischen AWT: »Ich habe gearbeitet, also
steckt meine Arbeit jetzt im Ding«.

Ciao,
Stefan

P.S. Schreib doch so'ne Sache in einen Blog, irgendeinen wirst du dafür
finden. Dann bleibt das keine private Zirkeldiskussion per Mail (wenn
überhaupt).

Samstag, November 28, 2009

DenkNuss

Anmerkung von FN


Eldred: "Der Wert läßt sich überhaupt nicht herstellen und er läßt sich
nur nach Erfahrungsregeln und nicht von einem Prinzip her quantitativ
voraussagen. Vielmehr verhält sich die Sache umgekehrt: Die Arbeit, die
die Ware produziert, wird erst im Spiegelspiel des Werts als wertvoll auf
dem Markt faktisch anerkannt. Der Wert hat keine Substanz, sondern als
gesellschaftliche Kategorie kommt er erst in einem gesellschaftlichen
Reflexionsverhältnis, d.h. erst in einer Vergesellschaftung der Ware als
Ware im Spiegel der anderen Waren, zustande. Das Wertsein selbst ist ein
Wertverhältnis. Deshalb ist der Wertbegriff ein Grundbegriff einer
sozialen Ontologie, d.h. einer Lehre des gesellschaftlichen Seins der
Menschen. "

Die Idiotie, die schon Engels mit ein paar dürren Worten abzukanzeln
versuchte, aber die sich damit nicht aus der Welt schaffen ließ, ist, dass
der Wert dann doch aus der Zirkulation entsteht.

Engels hätte aber nicht blökend auf das FAKTUM der Produktion verweisen
sollen ("dass eine Nation verreckt, die nicht....") sondern umgekehrt
fragen sollen warum sich dann jemand überhaupt die Mühe der Produktion
antut und nach welchen Gesetzen diese Produktion denn sonst abläuft.

Wenn sich Wert nicht produzieren ließe, gäbe es keine Produktion oder ihre
Gesetze wären unbegreiflich. Das ist wenn man so will der "Beweis" der
Arbeitswertlehre. Und wir sind seit Marx noch keinen Flohsprung weiter, was
die Schwierigkeit betrifft, diesen einfachen Satz verständlich zu machen.

Ansonsten ist Eldred ein Haus von wandelnden Widersprüchen. Der Wert lässt
sich das eine Mal nicht produzieren, und dann rekurriert er doch auf die
Arbeitswerte. Das eine Mal verwandelt sich der Wert notwendig in Kapital,
das die sozialen Charaktere unwiderruflich scheidet, das andere Mal
bleiben gleichberechtigte faire Spieler übrig.

Das Blöde ist: diese Positionen sind unglaublich populär auch in der
Marx-Rezeption.

gute Ideen sind gefragt!

Freitag, November 27, 2009

Spiel

Spiel / global players - pejorativ, ganz zu Unrecht?
winwin or winloose ?

Lieber MiEl,

"der Mensch ist nur ganz Mensch wo sie/er spielt"
- so schon Schiller.

"die Deutschen das produktionistische
> Volk par excellence"
freut Friedrich N.: Schöpfer sollst Du sein!

"Im Englischen hat das Wort 'player' keineswegs solche pejorativen Konnotationen, und ontisch-experientiell ist es schon längst verstanden und akzeptiert, daß wir alle player sind.
("Konkurrenzsubjekt", wie wir das damals genannt haben, sitzt noch nicht ganz.)" Und auch die Witti-Spiele, die Sloter-Übungen ... fallen dazu leicht ein.
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"Bei mir ist die Einsicht, daß der Mensch wesenhaft ein Spieler ist (oder besser: die Menschen wesenhaft Spieler sind -- Plural!!), erst im Zusammenhang mit meiner Arbeit 2000-2002 an der Ontologie/Metaphysik des Austausches aufgegangen (im Gegen-Satz zum für das westliche Denken Maß-gebenden Paradigma der Herstellung). Den Menschen als Subjekt zu apostrophieren ist die neuzeitliche Wesensbestimmung, die den Menschen als das -- v.a. vermittels der Wissenschaft und Technik -- Zugrundeliegende, _archae meta logou_, Beherrschende, Kontrollierende, Produzierende entwirft. Seit langem habe ich nicht mehr vom Menschen als Subjekt gesprochen, aber ihn Spieler/player zu nennen, kam erst in den letzten Jahren.

So erhält die Wesensbestimmung des Kapitalismus als GEWINNST Spieler im
Gewinn-Spiel."
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Und damit ist auch gemeint: alle Mitspieler gewinnen ?
Manche halt TrostPreise ... ? and the globe wins too,
die große Nährerin

Donnerstag, November 26, 2009

Michael Eldred 2007

manchmal ist es angezeigt, etwas Selbstverständliches vorab auszudrücken: dieser Beitrag wird hier wiedergegeben, um ihn zur Diskussion zu stellen. vieles in Eldreds Text ist "schön und gut". Jedoch wenn ich auf das Ende sehe ...
the blogger


Abstract
'Value is a game — Thinking Marx differently', talk given at the Philosophical Café in Wuppertal on 22 January 2007. The famous "labour theory of value" that provides the conceptual foundation for Marx's Capital has been attacked ever since the first publication of Marx's main work. As a price theory, the LTV has been shown to be untenable. A consistently phenomenological reading of the value-form in the first chapter, however, allows an alternative concept of value to be developed upon whose basis a socio-ontological vista of civil society opens up, played out as the struggle for the powers residing in things and the abilities residing in the human players to be recognized, estimated, valued and validated.

1. Werte
Unsere natürliche metaphysische Einstellung heute zum Wert ist eine subjektive, man könnte sagen, eine Kantische. Das Subjekt 'projiziert' seine Werte in die Dinge, die ihrerseits 'objektiv' gegeben sind. Eine solche Denkweise ist gang und gäbe. Wir reden auch von unseren abendländischen oder christlichen Werten und grenzen sie ab etwa gegenüber den orientalischen und muslimischen. Zu unseren heutigen Werten gehören auch die Menschenrechte, deren Inhalt im Westen immer umfassender geworden ist. So gibt es nicht nur ein universales Menschenrecht auf Eigentum an seiner eigenen Person, das die Sklaverei verbietet, sondern auch etwa angeblich ein Menschenrecht auf soziale Absicherung, auf einen gesellschaftlich zulässigen Lebensstandard, der ein Absinken in die Armut verhindert, usw.

Von Werten in diesem allgemeinen und hohen Sinn wird hier nicht die Rede sein. Stattdessen wollen wir uns auf den Weg machen zu sehen, wie der Wert ganz alltäglich an den Dingen und gar an den Menschen selbst im gesellschaftlichen Verkehr entsteht und erscheint. So werden wir sehen, daß der Wert nicht als etwas Subjektives, geschweige denn als eine Sache der bloßen subjektiven Meinung, begriffen werden kann.

Für den folgenden Weg wird es nützlich sein, den phänomenalen Gehalt des Worts 'Wert' ganz vorläufig zu umreißen. Etwas oder jemand hat Wert oder ist wertvoll in einem ganz profanen Sinn, wenn es bzw. er zu etwas gut ist bzw. zu etwas taugt innerhalb der Gebräuche des Alltags. In einem abgeleiteten Sinn hat ein gut brauchbares Etwas Wert, indem es gegen etwas anderes Brauchbares getauscht werden kann. Das deutsche 'Wert haben' entspricht dem lateinischen 'valere', was so viel bedeutet wie 'stark, mächtig, einflußreich sein; auch Wert haben, einschließlich monetären Werts'. Das lateinische 'valere' wiederum entspricht dem griechischen du/nasqai, das Verbum zu du/namij, das griechische Wort für Macht, Kraft, Vermögen, Fähigkeit, Wert. Insbesondere etwas Wertvolles hat die du/namij oder Kraft, gegen Geld oder etwas anderes Wertvolles getauscht zu werden.

Unser Ausgangspunkt ist das berühmte erste Kapitel 'Die Ware' aus dem Kapital von Karl Marx, in dem die berühmt-berüchtigte Arbeitswerttheorie und der Wertbegriff als Erstes systematisch entwickelt werden.

2. Die Marxsche Arbeitswertlehre und die Marxsche Wertformanalyse
Nach einer gängigen oder gar orthodoxen Deutung der Marxschen Werttheorie besagt sie, daß die Waren, die auf den unzählig verschiedenen Märkten "unsrer kapitalistischen Gesellschaft" (MEW23:58) tagtäglich getauscht werden, die Hände wechseln im Verhältnis zu der in ihnen verkörperten "gesellschaftlich notwendigen Arbeit" (MEW23:89). Diese "gesellschaftlich notwendige Arbeit" soll das quantititive Maß abgeben für die Austauschverhältnisse sowie für den Wert, den eine bestimmte Ware objektiv verkörpert und darstellt. Die Substanz des Werts nach dieser Deutung ist demnach die geleistete und in der fertigen Ware verkörperte Arbeit, die, wie man sagt, durch die Zeit 'objektiv' gemessen werden kann. Die Wertsubstanz dann regelt die Tauschverhältnisse unter den Waren als ein inneres Maß, das unabhängig ist von den Tauschverhältnissen und in der Produktionssphäre bestimmt werden kann. So ungefähr lautet die sogenannte Arbeitswertlehre.

Sie bildet die begriffliche Basis, auf der die Theorie des Mehrwerts im Kapital entwickelt wird, die besagt, daß die vom Kapitalisten beschäftigten Arbeiter den Mehrwert produzieren, weil sie mehr Arbeit leisten, in Arbeitsstunden gemessen, als sie vom Kapitalisten in Arbeitslohn bezahlt bekommen[, der im Wert nur einem Teil der für den Kapitalisten geleisteten Arbeit entspricht]. Demnach ist der Profit des Kapitalisten nichts anderes als eine verwandelte Form der Mehrarbeit, die die Arbeiter über die notwendige Arbeit leisten[, die notwendig ist in dem Sinn, daß in den notwendigen Arbeitsstunden des Arbeitstags die Arbeiter das Wertäquivalent ihres Arbeitslohns produzieren]. So — nach dieser orthodoxen Arbeitswertlehre — werden die Arbeiter als die Wertschöpfenden vom Kapitalisten systematisch ausgebeutet.

Nun ist diese Marxsche Arbeitswertlehre[, die sich von der Ricard'schen Arbeitswertlehre nicht unterscheidet,] von Anfang an heftig angegriffen worden[ sowohl empirisch als auch gedanklich. So hat es z.B. das sogenannte Transformationsproblem gegeben, das sich mit dem theoretischen Problem beschäftigt, wie die Arbeitswerte der Waren sich in Preise verwandeln, die einen durchschnittlichen Profit darstellen, die sog. Produktionspreise, die schon für Ricardo ein theoretisches Problem darstellte. Aber] bereits 1894 hat ein früher Kritiker des Marxschen Kapital Eugen von Böhm-Bawerk eher im Vorbeigehen(2) seinen Finger auf den eigentlichen wunden Punkt der Arbeitswertlehre gelegt. Er fragte im Rückgang auf Aristoteles, warum überhaupt die Arbeit die Substanz des Warenwerts ausmachen soll und nicht vielmehr die Brauchbarkeit bzw. der Gebrauchswert, der jedoch kein auf der Hand liegendes, inhärentes, quantitatives Maß besitzt.

[Das gedankliche Problem mit der Marxschen Arbeitswertlehre liegt schon in der Qualifizierung des Wertmaßes als "gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit". Warum ist dies ein Problem? Weil nicht alle Arbeiten gleichermaßen wertproduzierend sind, so daß quantitativ betrachtet qualitativ wertschöpfendere Arbeit quantitativ als "multiplizierte einfache Arbeit" (MEW23:59) gelten, so daß in der gleichen Zeit unterschiedlich große Wertquanta produziert werden. Und wie wird nach Marx der Multiplikationsfaktor bestimmt, mit dem die einfache Arbeit multipliziert werden soll, um der wertschöpfenderen Arbeit gleich viel Wert zu sein? Wie Marx ausdrücklich sagt: nur über die Tauschverhältnisse auf dem Markt, d.h. "durch einen gesellschaftlichen Prozeß hinter dem Rücken der Produzenten" (MEW23:59). Die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit soll jedoch gerade die Tauschverhältnisse regeln. Dies ist offenbar eine Zirkularität, die die Marxisten seit jeher angeblich 'dialektisch' aufzulösen bestrebt sind. Wie wir sehen werden, entstammt diese Zirkularität einem grundlosen Spiegelspiel.]

Marx selber läßt den Widerspruch in seiner Fassung der Arbeitswertlehre stehen. Er löst ihn nicht auf, auch wenn er die schlichte Ricardo'sche Fassung der Arbeitswertlehre mit seiner Wertformanalyse ergänzt. "Die Wertform," sagt Marx, "deren fertige Gestalt die Geldform, ist sehr inhaltslos und einfach. Dennoch hat der Menschengeist sie seit mehr als 2000 Jahren vergeblich zu ergründen gesucht,..." (MEW23:11f) Die "2000 Jahre" sind ein Hinweis auf Aristoteles, der in seiner Nikomachischen Ethik die Wertform durchaus analysiert, aber die Arbeit als die Wertsubstanz nicht zu entdecken vermochte, angeblich "weil die griechische Gesellschaft auf der Sklavenarbeit beruhte", wie Marx schreibt (MEW23:74).

Schon der Ausdruck "Wertform", der das Wort "Form" enthält, stellt einen Hinweis auf den Umstand dar, daß wir es hier mit einer ontologischen Fragestellung zu tun haben. 'Form' ist eine Standardübersetzung vom griechischen i)de/a und ei)=doj, die beide eine maßgebliche Rolle in sowohl der Platonischen als auch der Aristotelischen Metaphysik spielen. Diese beiden Begriffe benennen das Sein des Seienden, d.h. den Anblick, den ein Seiendes als solches von sich zeigt. Was aber hier signifikant ist, ist, daß die Wertform in einem fundamentalen, universellen und einfachen gesellschaftlichen Prozeß — nämlich im tagtäglichen Austausch der Waren — angesiedelt ist, und deshalb als Phänomen die Möglichkeit enthält, einen Grundbegriff für eine Sozialontologie zu liefern, denn auf den Märkten haben Menschen auf praktische, handelnde Weise miteinander zu tun und sind dadurch auf alltägliche Weise 'assoziiert', d.h. vergesellschaftet.

Wenden wir uns einem sehr knappen Umriß der begifflichen Analyse der Wertform zu.
3. Spiegelspiel der Werte
Die Wertform entsteht erst durch ein Spiegelspiel. Die verschiedenen Wertformen — einfache, relative, äquivalente, entfaltete, allgemeine Wertform und die Geldform, — sind alle Tauschverhältnisse bzw. Momente derselben. Die eine Ware drückt ihren Wert in einer anderen Ware, in anderen Waren oder in Geld aus. Dieser "Wertausdruck" (MEW23:67) braucht laut Marx einen "Wertspiegel" (MEW23:72),(3) der durch die Ware oder das Geld in der Äquivalentform gegeben ist. Der Wert als abstrakt allgemeine Arbeit, behauptet Marx, drückt sich in einem "Wertverhältnis" (MEW23:66) aus, das ein Spiegelverhältnis ist. Marx nennt dieses Wertverhältnis auch eine "Reflexionsbestimmung" (MEW23:72), in der die eine Ware eine Wertform annimmt, nur weil die andere Ware diese Wertform widerspiegelt — und auch umgekehrt. Wir befinden uns also in der Spiegelhalle des Werts. Betrachten wir die Sache näher.

In erster Linie ist ein Arbeitsprodukt, das auf dem Markt als Ware angeboten wird, ein Gebrauchswert. Es ist wertvoll, weil es zu irgendeinem menschlichen Zweck brauchbar ist. [Es ist gut zu irgendeinem Zweck. ]Solche Zwecke entstehen und sind nur im Zusammenhang mit den Gebräuchen oder gewohnten Praktiken, in denen Menschen in Gesellschaft leben. Schuhe z.B. sind Gebrauchswerte, nur weil und insofern Menschen den Brauch haben, Schuhe zu tragen. Gebrauchswerte sind deshalb weder rein objektiv noch rein subjektiv, sondern subjekt-objektiv. Etwas ist nur objektiv zu einem bestimmten Zweck zu gebrauchen, wenn es gewisse Eigenschaften besitzt, und etwas ist nur wertvoll und nützlich, wenn menschliche Subjekte die entsprechenden Alltagspraktiken pflegen, in denen das betreffende Etwas gebraucht wird. In einer Gesellschaft z.B., in der Pferdewagen als Verkehrmittel nicht mehr gebraucht werden, d.h. diesen Brauch nicht mehr pflegen, haben Pferdewagen keinen Gebrauchswert (mehr).

Gebrauchswerte sind in der Regel nicht Gebrauchswerte nur für einen einzelnen Menschen[ bzw. nur für den Menschen, der den Gebrauchswert produziert hat]. Sie sind Gebrauchswerte-für-andere, indem sie auch von anderen Menschen gut gebraucht werden können. Dieser Umstand verleiht dem Gebrauchswert einen abgeleiteten Tauschwert. Gebrauchswerte können unter einander getauscht werden, weil jeder Gebrauchswert sich auch potentiell anbietet als ein Gebrauchswert-für-andere. In einer Marktgesellschaft wie der unseren werden Gebrauchswerte in der Regel für andere, für den Markt hergestellt, auf dem sie einen Tauschwert besitzen, in dem Sinn, daß sie die Kraft innehaben, sich gegen andere Gebrauchswerte in einem gewissen, meist schwankenden quantitativen Marktverhältnis auszutauschen. Wo das Geld sich als der allgemeine Vermittler des Warentausches etabliert hat, nennt sich das quantitative Tauschverhältnis gegen Geld der Preis einer Ware. Das Geld als Ding übernimmt die Rolle des Wertspiegels, der den Wert aller Waren reflektiert. Der Preis einer Ware kann real oder wirklich sein, wenn die Verkaufstransaktion vollzogen wird, oder aber ideal und potentiell, so lange die Ware nur zu einem bestimmten Preis angeboten wird, der nicht notwendig auf dem Markt tatsächlich erzielt wird. Durch das Geld steht jedes Warenprodukt in einem potentiellem Tauschverhältnis mit jeder anderen Ware, so daß man sagen kann, daß der Tauschwert ein allgemeines, abstraktes, gesellschaftliches Verhältnis ist, das alle Warenprodukte — und vermittelt durch die Produkte, auch die unzähligen verschiedenen konkreten Arbeiten, die sie produziert haben — miteinander abstrakt-allgemein assoziiert. [Dieses geldvermittelte Sozialverhältnis ist abstrakt, weil alle Waren durch ihre verschiedenen, meist schwankenden Preise dem Geld gleichgesetzt sind, und das Geld ist ein qualitätsloses, d.h. abstraktes Medium, das nur quantitative Wertunterscheidungen zuläßt. Der Tauschwert drückt sich nur quantitativ in einem Preis aus. ]Das Geld dient als quantitativer Wertspiegel für den Wert einer jeweiligen Ware, und vermittelt durch das Geld dient jede Ware als Wertspiegel, quantitativ sowie qualitativ, für jede andere Ware.

Kontra Marx läßt sich jedoch nicht behaupten, daß der Tauschwert in Geld oder anderen Waren nur ausgedrückt wird in dem Sinn, daß eine bestimmte Menge geleistete Arbeit, die nun im Arbeitsprodukt steckt, das Tauschverhältnis quantitativ regelt. Vielmehr sind die unzähligen Warentauschverhältnisse in einer Marktwirtschaft ein Spiegelspiel, in dem jede Ware als Wertspiegel der anderen dient und jede Ware erst im Wertspiegel der anderen Waren sieht, was sie wert ist. Erst im vollzogenen Tauschverhältnis stellt sich heraus, daß und inwiefern eine Ware wert ist und zwar durch die Anerkennung ihres Werts im Durchgang durch den Wertspiegel der anderen Waren bzw. im Geld. Es nützt nichts, daß geleistete Arbeit[, sogar mit den jeweils herrschenden Produktionsverfahren geleistete Arbeit] in einem nützlichen Arbeitsprodukt steckt, wenn der Markt dieses Arbeitsprodukt faktisch nicht anerkennt als einen Wert und ihm die Wertspiegelung verwehrt. Es sind die jeweils herrschenden und immer schwankenden Marktbedingungen, die die Wertanerkennung gewähren oder vorenthalten bis hin zur völligen Verweigerung, die angebotene Ware als wertvoll anzuerkennen.

Damit ist der kausale Zusammhang zwischen der Produktion einer Ware und ihrer Anerkennung als Wert durchgeschnitten. Der Wert zeitigt sich in einem Spiegelspiel der Anerkennung unter den Waren selbst auf dem Markt. Er wird nicht produziert, so wie eine Ware als Gebrauchswert technisch präzise und berechenbar hergestellt wird, und auch die Arbeit, die die Ware herstellt, schafft keinen Wert. Der Wert, den eine Ware darstellt, kann nicht durch die geleistete Arbeit, die sie verkörpert, im voraus berechnet werden. Der Wert läßt sich überhaupt nicht herstellen und er läßt sich nur nach Erfahrungsregeln und nicht von einem Prinzip her quantitativ voraussagen. Vielmehr verhält sich die Sache umgekehrt: Die Arbeit, die die Ware produziert, wird erst im Spiegelspiel des Werts als wertvoll auf dem Markt faktisch anerkannt. Der Wert hat keine Substanz, sondern als gesellschafliche Kategorie kommt er erst in einem gesellschaftlichen Reflexionsverhältnis, d.h. erst in einer Vergesellschaftung der Ware als Ware im Spiegel der anderen Waren, zustande. Das Wertsein selbst ist ein Wertverhältnis. Deshalb ist der Wertbegriff ein Grundbegriff einer sozialen Ontologie, d.h. einer Lehre des gesellschaftlichen Seins der Menschen. [Die Kategorien einer sozialen Ontologie sind Reflexionsbestimmungen, in denen sowohl die Dinge als auch die Menschen in einem Spiegelverhältnis zueinander stehen. Darüber hinaus ist der Wert als Kategorie eines gesellschaftlichen Anerkennungsspiels eine Idee, und insofern ist es unsinnig, eine Gesellschaft, in der es um die Schätzung von Werten in einem Marktgeschehen geht, 'materialistisch' zu nennen.

Die Verhältnisse unter den Menschen sind ein Spiel, weil jeder individuelle Mensch als freies Wesen der grundlose Ausgang oder Ursprung seiner eigenen Selbstbewegungen ist, so daß, wenn Menschen zusammenkommen, es immer ein Zusammentreffen von zwei oder mehr Grundlosigkeiten ist, was eben ein grundloses Wechselspiel in Gang bringt. ]Das Spiegelspiel, in dem sich der Wert zeitigt, ist als Spiel grundlos und läßt sich nicht kausal, nicht einmal als komplizierte kausale Wechselwirkung bestimmen bzw. ausrechnen, weder empirisch noch im Prinzip. Das Wertspiegelspiel ist deshalb zwar ein Wechselspiel aber keine Wechselwirkung. Die Ware als Wert existiert, oder vielmehr schwebt in der Differenz zwischen Objekt und Subjekt, zwischen der Realität und der Idealität der Ware. Als ein Reales ist die Ware ein endliches Ding mit bestimmten Qualitäten und Eigenschaften. Als ein Ideales ist die Ware entworfen als Gebrauchswert innerhalb eines menschlichen Entwurfs. Im Tauschgeschehen auf dem Markt sind diese beiden Wesensmomente der Ware in einem unkalkulierbaren Wechselspiel miteinander verschränkt. Deshalb liegt auch eine ontologische Kluft zwischen der Wirtschaftswissenschaft und den Naturwissenschaften.

[Der Kern der Wahrheit in der Marxschen Arbeitswertlehre ist, daß in einer Marktgesellschaft die menschliche Arbeit — zuächst vermittelt durch die Arbeitsprodukte, die diese Arbeit verkörpern — in Geld abstrakt-allgemein als wertvoll anerkannt wird. Das Marktgeschehen selbst bewertet die Waren und die Arbeit, die sie verkörpern. Das Geld selbst als Ding ist in Wahrheit ein verdinglichtes gesellschaftliches Verhältnis bzw. eine Reflexionsbestimmung, da es ist, was es ist, nur durch die vermittelnde Rolle, die es im Spiegelspiel des Werts spielt, und nur solange die Waren das Geld erkennen als das, worin sie ihren Wert spiegeln. Der Wert als eine abstrakt-allgemeine und auch im Geld verdinglichte Kategorie assoziiert auch die menschliche Arbeiten als wertvoll auf abstrakt-allgemeine, verdinglichte Weise gerade durch das Spiegelspiel auf dem Markt. ]

4. Vergesellschaftung als Wechselspiel der Kräfte
Jetzt mit dem Wertbegriff als einem genuin sozialontologischen Begriff ausgestattet sind wir in der Lage, ein paar Schritte auf dem Terrain einer Sozialontologie zu tun. Zunächst kann sich der Weg fortsetzen durch eine Marxsche Landschaft. Bisher haben wir nur das Wertsein von Waren, die Arbeitsprodukte sind, betrachtet. Arbeitsprodukte als Gebrauchswerte haben das Potential, im Gebrauch brauchbar zu sein und haben insofern eine Kraft. Gebrauchswerte sind Gebrauchskräfte. Sie können gebraucht werden. Insofern ist das Spiegelspiel der Warenwerte auf dem Markt ein Kräftespiel aber nicht, indem die in den Waren innewohnenden Gebrauchskräfte auf dem Markt verwirklicht werden, sondern nur indem sie ideel von potentiellen Käufern — in einem Kräftespiegelspiel reflektiert — gesehen, eingeschätzt und geschätzt werden. Die Warenprodukte, die Konsum- oder Produktionsgüter sein können, zeigen sich auf dem Markt als die Träger von brauchbaren Qualitäten, die potentielle Käufer zum Kauf verlocken sollten. Sie stellen sich ideel als wertvoll dar und zu diesem Zweck stellen sie ihre Vorzüge zur Schau. Das Spiegelspiel der Werte ist daher auch eine Zurschaustellung von brauchbaren und manchmal verlockenden Kräften, die die Waren vorgeben zu besitzen.

Bekanntlich jedoch gibt es nicht nur Arbeitsprodukte, und nicht einmal alle Arbeitsprodukte sind dinglich — Dienstleistungsprodukte sind genauso Warenwerte [wie handgreifliche Warendinge ]und auch sie nehmen teil am Spiegelspiel der Warenwerte. Zudem umfaßt die Welt der käuflichen Waren auch die Arbeitskraft, die Erdoberfläche sowie das Geld selbst. Verpachteter Grund und Boden wirft eine Grundrente ab, und geliehenes Geld Zinsen. Die dem Arbeiter innewohnende Arbeitskraft wird einem sogenannten 'Arbeitgeber' geliehen, der die Arbeitskraft dann ins Werk setzt, d.h. verwirklicht als ausgeführte Arbeit. Arbeitskraft, Boden und Produktionsmittel werden die drei Produktionsfaktoren genannt, und nur durch ihr Zusammenwirken kommt ein Arbeitsprozeß zustande. Das Produkt, das in diesem Arbeitsprozeß entsteht, wird verkauft, d.h. als ein Wert honoriert, und dadurch werden die in den Produktionsfaktoren innewohnenden Produktivkräfte auch indirekt anerkannt als zum Endwarenwert beitragend. Umso mehr ist es unsinnig zu behaupten, daß der Wert einer Ware allein durch die Arbeitszeit, in der Arbeitskraft im Produktionsprozeß verausgabt wird, gemessen werden könnte[, denn verschiedene und vor allem produktivere Produktionsmittel bedeuten auch qualitativ verschiedene Arbeiten und deshalb auch ein quantitativ verschiedenes Ausmaß an Wertanerkennung im Geld].

Mit der Erweiterung des Kreises des Käuflichen auf beinahe alles Seiende in der Welt — Dinge sowie Menschen bzw. deren unterschiedliche Fähigkeiten und andere Qualitäten wie z.B. gesellschaftlicher Status — hat die Warenwelt ihre möglichst große Ausdehnung erfahren. Alles spiegelt seinen Wert im abstrakt-allgemeinen Wertspiegel des Geldes. Alles kann wie Alice durch den Spiegel des Geldes schlüpfen und sich in alles Mögliche verwandeln. Die Zauberkraft des Geldes als Wertding, worin Alles sich wertmäßig spiegelt, ermöglicht dies.

Aber es gibt noch eine weitere Spielart des Werts, in der der Wertspiegel des Geldes selbst anfängt zu tanzen, und das ist die Selbstbewegung des Werts als Kapital. Indem der in Geld dinglich kristallisierte Wert selbst sich in Bewegung setzt, mobilisiert er alles Andere, nämlich die Produktionsfaktoren in einem Produktionsprozeß. Als Kapital bewegt sich der Wert in einer Kreisbewegung von Geldkapital durch Produktion und zurück zum Geldkapital. Eine solche Bewegung hat nur einen Sinn, sofern das Geldkapital, das am Anfang des Kreislaufs vorgeschossen wird, sich vom Geldkapital, das am Ende des Kreislaufs steht, unterscheidet. Da aber das Geld ein abstrakt-allgemeines Medium ist, unterscheidet es sich in sich nur quantitativ. [Das Quantitative ist ja die Abstraktion von jeder Bestimmtheit des Qualitativen.] Die Kreisbewegung des Werts muß deshalb eine sein von Geld zu mehr Geld; der Wert muß sich im Kapitalkreislauf vermehren, damit sich die Kreisbewegung nicht zerstört durch eine allmähliche Wertvernichtung des eingesetzten Kapitals. Das Kapital setzt also — unter der Regie eines einzelnen Unternehmers oder eines kollektiven Unternehmers genannt Management — ein Zusammenspiel der Produktionsfaktoren in Bewegung, das zugleich ein komplexes Spiegelspiel des Werts ist, sofern die vielen verschiedenen Produktionsfaktoren (Arbeitskräfte, Produktionsmittel, Boden) eingekauft bzw. angemietet werden müssen, und das Endprodukt dann auch verkauft werden muß, und all das unter der Grundbedingung, daß am Schluß das Spielergebnis so dasteht, daß der eingesetzte Kapitalwert sich vermehrt hat. [Mehrfach müssen sich die unterschiedlichen Waren dem Risiko der Wertspiegelung und -anerkennung auf dem Markt aussetzen, damit das umfassende Kreisspiel der Selbstverwertung des Werts insgesamt gelingt.

Die Produktivkräfte der verschiedenen Produktionsfaktoren, die das Kapital im Produktionsprozeß in Bewegung und ins Werk setzt, können technisch planbar und genau eingesetzt und gesteuert werden, so daß mit voller Vorausberechenbarkeit das jeweilige Produkt hergestellt wird, aber sämtliche Schnittstellen zum Markt bzw. zu Anderen bleiben den Schwankungen des Wertspiegelspiels ausgesetzt. Ob es dem Kapital überall gelingt, das Spiegelspiel der Verwertung des Werts erfolgreich zu spielen, ist nicht planbar, nicht kalkulierbar. Alle Wertparameter der Kreisbewegung bleiben dem Spiegelspiel selbst ausgesetzt, so daß es darauf ankommt, möglichst gut zu spielen, aber ohne Erfolgsgarantie. Fehler in der Einschätzung des künftigen Verlaufs des Wertspiegelspiels müssen möglichst rasch korrigiert werden, um die Spielstrategie möglichst auf Erfolgskurs zurückzubringen. ]

Wenn der Austauschprozeß auf dem Markt einschließlich des Marktes für Arbeitskräfte allein vom Standpunkt der menschlichen Teilnehmer betrachtet wird, dann erscheint das Marktgeschehen als ein Wertspiegelspiel, in dem menschliche Kräfte, Vermögen, Fähigkeiten entweder direkt oder indirekt als wertvoll anerkannt, honoriert und in dem Sinne 'geehrt' werden. Ein Arbeiter in diesem fundamental sozio-ontologischen Sinn ist nicht unbedingt einer, der in einer Fabrik arbeitet, sondern jeder, der Fähigkeiten welcher Art auch immer besitzt und sie gegen Geld, sei es Lohn oder Gehalt oder Honorar oder Servicegebühr etc., zur Verfügung stellt. Wir alle, die wir in einer Marktwirtschaft leben, spielen mit im Spiegelspiel der Werte, indem wir unsere Arbeitskraft in Geld honorieren lassen. Solche Wertanerkennung und Honorierung der Arbeitskraft umfaßt hier grundsätzlich auch defiziente Modi derselben, so daß selbst der Arbeitslose eine defiziente Wertanerkennung seiner Arbeitsfähigkeiten genießt oder vielmehr erleidet.

In erster Linie sind es unsere Fähigkeiten, die im Spiegelspiel des Werts eingeschätzt und monetär anerkannt werden, und nur in zweiter Linie unser gesellschaftlicher Status und Vermögensstand[, den wir durch unsere Fähigkeiten oder vielleicht durch die Fähigkeiten unserer Vorfahren im Erwerbsspiel erreicht haben]. Unser gesellschaftlicher Status als Blendwerk unseres [im etymologischen Sinn genommenen ]Prestiges(4) ist auch oft nur der Widerschein der Geldanerkennung unserer Fähigkeiten oder unseres akkumulierten Vermögens. Die Wertanerkennung unserer Fähigkeiten ist selbst ein Teilspiel des Spiegelspiels des Werts und läuft auf einen Kampf der Anerkennung hinaus. Es kommt darauf an, nicht nur Fähigkeiten genuin zu entwickeln und zu besitzen, sondern diese Fähigkeiten im Spiegelspiel des Marktes möglichst scheinen und so honorieren zu lassen. Die persönlichen Fähigkeiten müssen sich zeigen, sie müssen zur Selbstdarstellung gebracht werden, nur so kommen sie in den Genuß einer Reflexion im Wertspiegel des Geldes. Wer einer ist gesellschaftlich, ist eine Sache nicht nur der Fähigkeiten, die er ausgebildet hat und besitzt, sondern auch deren Widerspiegelung in Anerkennungsverhältnissen mit anderen. Die Achtung und Anerkennung durch andere, die man genießt oder nicht genießt, macht das Wersein mit aus, und insofern ist das Wersein ein gesellschaftliches Werverhältnis als Werspiegelspiel,(5) genauso wie das Wertsein ein gesellschaftliches Wertverhältnis als Wertspiegelspiel ist.

Die eigenen Fähigkeiten müssen nicht nur zum Scheinen gebracht werden[ in einer Selbstdarstellung, um einen Stand im Spiegelverhältnis der Anerkennung zu genießen], sondern sie müssen unausweichlich zu einem Mehrscheinen kommen gegenüber dem Scheinen der Fähigkeiten vergleichbarer Anderen, um überhaupt zu glänzen. Persönliche Fähigkeiten sind eine Art Macht, nämlich die Macht, eine Änderung, welcher Art auch immer, in der Welt hervorzubringen, wie z.B. ein Komiker die Macht besitzt, Menschen zum Lachen zu bringen. Das Bestreben, die eigenen Fähigkeiten zum Scheinen zu bringen, um in den Genuß der Anerkennung anderer und speziell in den Genuß der Geldwertanerkennung zu kommen, ist deshalb ein Machtspiel gegen andere, eine Rivalität, um die eigenen Vorzüge möglichst glänzen zu lassen. [Dieses Machtspiel wird teils anonym über den Markt und teils persönlich gegen bekannte Rivalen ausgespielt. Wie jedes Spiel einschließlich des Wertspiels ist das Machtspiel der persönlichen Fähigkeiten, um möglichst glänzend als Wer dazustehen, grundlos, sofern viele verschiedene Machtzentren gegen- und miteinander ins Spiel kommen. Selbst wo ein Ethos der Solidarität in einer Gruppe herrscht, hat diese Solidarität stets ihre Grenze in der Rivalität gegenüber einer anderen, konkurrierenden Gruppe. ]

Selbst bei der Wertanerkennung auf dem Markt von Waren, die Gebrauchswerte sind, ist die Macht im Spiel, sofern ein Gebrauchswert eine Kraft, und in dem Sinn eine Macht besitzt, irgendeine nützliche Änderung hervorzubringen, wie z.B. Schuhcreme die Kraft besitzt, die Farbe von Schuhen zu ändern bzw. zu verbessern. Solche Waren müssen sich auch auf dem Markt gegen Konkurrenzprodukte darstellen als die Träger von nützlichen und nützlicheren Kräften, um überhaupt als solche anerkannt zu werden und damit einen Wert, einen Preis erzielen zu können. Es gibt also auch ein Machtspiel und eine Rivalität unter den Waren selbst, um möglichst viel Wertanerkennung im Geldspiegel zu erhalten. Ähnliches gilt auch für die Produktionsfaktoren. Insgesamt können wir deshalb sagen, daß das Spiegelspiel des Werts auf dem Markt überhaupt in seinen vielen verschiedenen Segmenten und Facetten ein Machtspiel ist[, in dem es darum geht, Kräfte und Fähigkeiten als möglichst wertvoll gegenüber anderen anerkennen zu lassen]. Gesellschaft überhaupt ist ein Machtphänomen und ein Machtspiel um die wertschätzenden Anerkennung.

5. Zivilgesellschaft als faires Kampfspiel um die Wertanerkennung
Ist es jedoch nicht beklagenswert, daß Macht und Rivalität zum Wesenskern von dem, was Gesellschaft heißt, gehören? Hat nicht schon Marx die Verdinglichung und Entfremdung in einer Gesellschaftsform, die durch Wertdinge — vor allem durch das Geld und das Kapital — vermittelt ist, angeklagt und eine Überwindung derselben gefordert? Soll nicht Gesellschaft höhere Werte haben als die Werte, die in einem kleinlichen Ringen um Anerkennung auf dem Markt unter Dingen und Menschen zustande kommen? Ist nicht die durch Geld vermittelte Gesellschaft eine egoistische Gesellschaft, die es gilt, in eine Gesellschaft der Solidarität und des Miteinanders aufzuheben? Soll nicht der Staat einschreiten, um diesem Machtspiel aller gegen alle Einhalt zu gebieten und das gesellschaftliche Miteinander in sozialere Bahnen zu lenken?

Es hat eine eigene Bewandtnis mit dem Sollen. Das Sollen ist ohnmächtig gegenüber dem, was in einem wesenhaften Sinn ist. Freilich ist das bloß Faktische niemals wesenthaft, niemals wahr, sondern höchstens richtig und kann deshalb von einem geforderten Sollen berichtigt werden, aber das Sollen muß dem Wesen entsprechen und darf nicht gegen es sprechen, wenn es nicht abprallen will. Insbesondere bringt der Ruf nach dem Staat, um etwa eine abgesichertere oder solidarischere Gesellschaft einzurichten, lediglich nur noch eine Macht mehr — nämlich die politische Macht — ins gesellschaftliche Machtspiel und schafft keineswegs das Machtspiel aller gegen alle ab, sondern verändert bloß das Medium — nämlich die Politik im weitesten Sinn —, in dem dieses Machtspiel ausgetragen und ausgefochten wird. Alle gesellschaftliche Macht einschließlich der politischen ist wesenhaft ein Spiegelspiel der Anerkennung. Insofern bringt die Forderung, das Spiegelspiel der Wertanerkennung im Marktgeschehen um der sogenannten 'sozialen Sicherheit' willen außer Gefecht zu setzen bzw. es durch politische Machtausübung zu lenken, lediglich eine weitere, letztendlich auch unkalkulierbare gesellschaftliche Macht ins Machtspiel. Und dieses Machtspiel ist genauso geprägt durch die Spannung zwischen Besonderheit und Allgemeinheit, Selbstinteresse und Allgemeinwohl.

Das Spiegelspiel der Anerkennung als Werte unter den Dingen und den Menschen rührt daher, daß Gesellschaft als ein Miteinanderleben überhaupt ein Anerkennungsprozeß ist, und was in diesem Anerkennungsprozeß anerkannt wird, sind vor allem die nützlichen Kräfte der Dinge und die Fähigkeiten der Menschen. Dinge und Menschen taugen zu etwas, und diese Tauglichkeit wird von anderen im gesellschaftlichen Verkehr eingeschätzt, geschätzt, bewertet und anerkannt. Deshalb präsentieren sich die Waren und die Menschen auf dem Markt von ihrer besten Seite. Sie streben nach Anerkennung von anderen und bieten deshalb etwas an. Sie zeigen, was sie können. Auch wenn sie Geld dafür verlangen, der vereinbarte Tausch ist in der Regel gegenseitig gewollt und befriedigend. Beide Seiten haben etwas davon. Von einem 'puren Egoismus' im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Marktgeschehen zu reden, ist deshalb insofern phänomenologisch unhaltbar, als der Andere in dieses Wertspiegelspiel wesentlich einbezogen ist und sein muß, so daß die Negation des Egoismus, nämlich der Altruismus, immer mit im Spiel ist. Die Gegenseitigkeit des Tauschspiels ist bereits die Aufhebung des bloßen einseitigen Egoismus oder des bloßen einseitigen Altruismus, und es könnte keine Gesellschaft bestehen, die rein auf dem Egoismus oder aber auf dem Altruismus beruhte. Sofern es die menschlichen Teilnehmer betrifft, bewegt sich die Wirtschaft durch das, was Menschen gegenseitig selbstinteressiert durch die Verwirklichung ihrer Fähigkeiten füreinander tun können. Insbesondere bedeutet dies, daß es keine ökonomische Wachstumgrenze gibt dafür, was Menschen kraft ihrer Fähigkeiten sich gegenseitig anzubieten haben.

Darüber hinaus ist das Gegeneinander auf dem Markt immer ergänzt durch ein Miteinander in der Produktion und sonstwo im Geschäftsleben, da keiner ohne die Kooperation mit Anderen irgendetwas zustande bringen könnte. Das Negative des Gegeneinander ist also notwendig durch das Positive des Miteinander ausgewogen und mit ihm verflochten. Aber noch mehr: das Negative des Gegeneinander ist selbst positiv, sofern es die Entwicklung und Verfestigung der eigenen Fähigkeiten fördert. Zudem liegt im Wertspiegelspiel untereinander auch die gegenseitige Anerkennung, Achtung und Ehrung der Person im allgemeinen sowie die Einschätzung und Schätzung ihrer individuellen Fähigkeiten im besonderen. Jeder kommt zu Stand, als wer er ist, nicht ohne sich selbst auch im Spiegel der Anerkennung durch Andere zu erkennen. Auch die Selbständigkeit ist eine Reflexionsbestimmung im Wechselspiel mit der Welt und vor allem mit Anderen in der Welt.

Außerdem übersieht die Klage über die Entfremdung und die Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse in einer kapitalistischen Marktgesellschaft, daß es genau dieses abstrakte, dinglich vermittelte Miteinander ist, das die Menschen als Individuen freiläßt und sie so zum ersten Mal geschichtlich als Individuen entwirft, selbst wenn — oder vielmehr gerade weil — es sie mit Gleichgültigkeit in einen Freiraum entläßt. Abstrakte, dinglich vermittelte Vergesellschaftung eröffnet Menschen die Freiheit, sich als Individuen über vielfältige mögliche selbstgewählte Weisen ins Gesellschaftsgeschehen einbinden zu lassen.(6) Gerade die Abstraktheit, Einfachheit und Gleichgültigkeit des Geldes als Vermittlungsglied von Gesellschaft öffnen einen abstrakten Raum der Selbstgestaltung, lösen dadurch traditionelle Bindungen durch Autorität, Tradition, familiäre, geschlechtliche und stammesmäßige Machtstrukturen auf und setzen damit individuelle Frauen und Männer als Einzelne frei zur Selbstwerdung ohne die Vorbelastung ungeprüfter und so gedankenlos übernommener Bindungen. Die menschliche Freiheit ist nur als individuelle Freiheit, d.h. nicht ohne sie, gleichgültig ob der Mensch im Einzelfall sie verkraftet oder nicht. In den abstrakten Raum geldvermittelter Vergesellschaftung lassen sich in vielfältiger Weise Selbstentwurf und Selbstdefinition des Individuums einzeichnen.

Das praktizierte Ethos einer derartigen Zivilgesellschaft von freigesetzten, sich selbst definierenden Individuen im Wertspiegelspiel miteinander ist deshalb die Zivilität: das Ethos des gegenseitigen Wortgebens und -haltens, des gegenseitigen Vertrauens, der Fairneß, der Höflichkeit, sogar der Freundlichkeit. Dieses Ethos oder diese Sittlichkeit gehört mit zum Wertspiegelspiel, in dem jeder Spieler auch gegen andere bestrebt ist, seine Fähigkeiten anerkennen zu lassen, sie zum Scheinen zu bringen nicht nur im Geldspiegel, sondern auch in den Augen Anderer. Die anderen Spieler werden abstrakt-allgemein und deshalb gleich-gültig als Personen anerkannt, indem jeder Spieler sich an die allgemein gültigen Spielregeln der Fairneß hält. Im konkreten Umgang miteinander muß zudem die gegenseitige Anerkennung auch konkreter werden, indem die besonderen Fähigkeiten des Anderen nach bestimmten Gebräuchen der Höflichkeit wertgeschätzt werden. Vor allem jedoch muß das Vertrauen untereinander genährt werden durch das gegenseitige Wortgeben und -halten, denn die Bewegung der Zivilgesellschaft würde ohne das Vertrauenselement ins Stocken geraten. Das englische Wort 'fairness' kommt von 'fair', was auch 'schön' heißt, wie man auch auf Deutsch sagt, eine Sache sei "schön und recht".(7) Dies deutet darauf hin, daß das Wertspiegelspiel, auch wenn es mitunter ein hartes Gegeneinander ist, gerade wegen aller Unberechenbarkeit auch schön sein kann. Denn das Lebenselement gesellschaftlicher Freiheit — als wesentlich vergesellschafteter individueller Freiheit — ist dieses Spiel, das wie jedes Spiel wesenhaft grundlos ist.(8)




Anmerkungen
1. Zuerst am 22. Januar 2007 im Philosophischen Café Wuppertal vorgetragen. Passagen in eckigen Klammern [ ] wurden beim Vortrag ausgelassen. Der Vortrag stellt dar, wie nach 25 Jahren durch ein erneutes Durchdenken der Wertform die Rekonstruktion der Kapitalanalyse wieder in einem anderen Licht — im Licht eines sozio-ontologischen Grundbegriffs des Spiegelspiels — erscheint. Vgl. den Anhang 'A Value-Form Analytic Reconstruction of Capital' von Michael Eldred, Marnie Hanlon, Lucia Kleiber & Mike Roth in M. Eldred Critique of Competitive Freedom and the Bourgeois-Democratic State Kurasje, Copenhagen 1984. Vgl. auch M. Eldred Kapital und Technik: Marx und Heidegger Verlag J.H. Röll, Dettelbach 2000.

2. "Im Vorbeigehen" bedeutet hier, daß Böhm-Bawerk in Zum Abschluß des Marxschen Systems en passant in Frage stellt, warum die (abstrakt-allgemeine) Arbeit die Wertsubstanz ausmachen sollte (etwa im Gegenentwurf zu einer Grenznutzenlehre), aber dann seine Kritik darauf fokussiert, das sogenannte Transformationsproblem zwischen 'Arbeitswertpreisen' und Produktionspreisen als Problem einer quantitativen Preistheorie ins Visier zu nehmen. Wenn jedoch es keine Wertsubstanz überhaupt gibt (weil der Wert ein Wertspiegelverhältnis ist), dann gibt es auch überhaupt kein Transformationsproblem. Vgl. meinen Aufsatz 'Exchange, Value, Justice – Aristotle, Adam Smith,Karl Marx'.

3. "Es ist mit solchen Reflexionsbestimmungen überhaupt ein eigenes Ding. Dieser Mensch ist z.B. nur König, weil sich andre Menschen als Untertanen zu ihm verhalten. Sie glauben umgekehrt Untertanenen zu sein, weil er König ist." Das Kapital Bd. I Marx-Engels Werke Dietz Verlag, Berlin 1962/75 Bd. 23 p. 72 = MEW23:72 Fußnote 21.

4. OED: ad. L. præstigium a delusion, illusion, usually in pl. præstigiæ, illusions, juggler's tricks, for *præstrigium f. præstringere to bind fast (præstringere oculos to blindfold, hence, to dazzle the eyes.

5. Zum Wersein vgl. M. Eldred Phänomenologie der Männlichkeit als Wersein: kaum ständig noch Verlag Dr. Josef H. Röll, Dettelbach 1999.

6. "Wenn also die ökonomische Form, der Austausch, nach allen Seiten hin die Gleichheit der Subjekte setzt, so der Inhalt, der Stoff, individueller sowohl wie sachlicher, der zum Austausch treibt, die Freiheit. Gleichheit und Freiheit sind also nicht nur respektiert im Austausch, der auf Tauschwerten beruht, sondern der Austrausch von Tauschwerten ist die produktive, reale Basis aller Gleichheit und Freiheit. Als reine Ideen sind sie bloß idealisierte Ausdrücke desselben; als entwickelt in juristischen, politischen, sozialen Beziehungen sind sie nur diese Basis in einer andren Potenz." Karl Marx Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie Dietz, Berlin 1974 S. 156.

7. "...daß sich etwas schöne und recht verhält" G.W.F. Hegel Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I Werke Band 18, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1971 VGPI:385.

8. [Ausblick: Das Ethos der Fairneß, wenn auch kongeniales sittliches Lebenselement der wertspielvermittelten Gesellschaft, reicht freilich nicht aus, um das Spiegelspiel des Werts innerhalb der Bahnen eines fairen Spiels zu halten. Wegen des Moments des Gegeneinanders wird ein faires, schönes Spiel zuweilen unfair, häßlich. Es entsteht ein Streit darüber, wer eigentlich Recht hat. Dies kann daran liegen, daß Regeln des fairen Spiels gebrochen werden oder aber daran, daß die Spielregeln selbst unfair sind oder beides. So sind ein Schiedsrichter und ein Richter vonnöten. Der Schiedsrichter richtet über eine umstrittene Auslegung der Spielregeln — im zivilen Recht —, während der Richter die Spielregeln wieder herrichtet, wenn sie mißachtet werden, und dies ist das Strafrecht. Beide Funktionen übernimmt der Staat als die überlegene — und als solche in einem Reflexionsverhältnis anerkannte — gesellschaftliche Macht. Zudem können die Spielregeln selbst unfair sein, und dies ist die naturrechtliche Grundfrage der Gerechtigkeit. Durch Gesetz und Vorschrift ist der Staat gefordert, die Spielregeln so zu setzen, daß sie der Idee eines fairen Spiels entsprechen. So begriffen greift der Staat bei all den genannten Funktionen nicht ins Spielgeschehen ein, um bestimmte Ergebnisse zu erzwingen, sondern beschränkt sich darauf, das Spiel fair und schön zu halten, selbst wenn es hart wird und nie gegen Risiko abgesichert werden kann, es sei denn, daß die Bürger ihre individuelle Freiheit gern gegen Sicherheit unter staatlicher Herrschaft eintauschen und in dem Maße aufhören, freie Spieler zu sein. ]








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Donnerstag, August 06, 2009

über den Commonismus

Vom Kapitalismus über den Commonismus zum Kommunismus?
Eine Betrachtung in Marx' Kategorien
Verfasser: Daniel Scharon

Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung........................................................................1
2. Was ist Freie Software?..................................................................2
2.1 Geschichte von Freier Software.........................2
2.2 „Freie Software“ oder „Open Source“?...................................................................4
2.3 Die Lizenzfrage (oder die Rolle des bürgerlichen Rechts)........................................................5
2.4 Das Entwicklungsmodell von Freier Software..........................................................................6
3. Freie Software im Kapitalismus ..................................................................................9
3.1 Freie Soft-Ware?..............................................................9
3.2 Welchen Wert hat Freie Software?...........................................................11
3.3 Abstrakte gesellschaftliche Arbeit und die Produktion Freier Software...... ...........................12
3.4 Kapitalistische Produktionsweise und Freie Software/Open Source.......................................14
4. Vom Commonismus zum Kommunismus?.......................................................15
4.1 Was heißt Kommunismus? ...................................................................16
4.2 Was heißt Commonismus? ...................................................................18
4.3 Eine Keimform einer neuen Gesellschaft?......................................................21
5. Fazit...........................................................24
Literaturverzeichnis..........................................26

II
1. Einleitung
Die zunehmende Verbreitung und Bedeutung von Freier Software rückt die Zusammenhänge
ihrer Entstehung sowie ihre grundsätzlichen Bedeutung in den Fokus wissenschaftlichen Untersuchungsinteresses. Doch dabei bleibt es nicht stehen. Freie Software und dessen Entwicklungsmodell wird von vielen als etwas ganz neues angesehen, das dem bisherigen Modell, Software zu produzieren, diametral entgegen steht. Einige Menschen, welche sich in dem Projekt Oekonux zusammengefunden haben, versuchen nun diese neue Art zu produzieren in die ökonomische Sphäre an sich zu übertragen. Die so entworfene Produktionsweise bekommt je nach AutorIn Bezeichnungen wie Peer-Ökonomie oder Commonismus zugewiesen. Doch nicht nur das, einige von ihnen sind dabei zu der These gekommen, dass Freie Software eine „Keimform einer neuen Gesellschaft“ ist ( Meretz/Merten 2005: 303). Viele der am Oekonux-Projekt Beteiligten sehen in dieser neuen Gesellschaftsform Marx' Vorstellung einer kommunistischen Gesellschaft erfüllt: „Der kommunistische Anspruch lebt, und die commonistische Produktionsweise ist heute seine beste Chance auf Realisierung“ (Siefkes 2009: 23). Sie bestätigen somit die Wahrnehmung vieler Menschen, wie zum Beispiel Microsofts CEO Steve Ballmer, von Freier Software als „irgendwie kommunistisch“ (Grassmuck 2004: 230).
Diese Arbeit soll nun ein Versuch sein, zu überprüfen, ob das Potenzial und der damit verbundene Anspruch der kommunistischen Produktionsweise tatsächlich mit Hilfe von Freier Software und deren Entwicklungsmodell eingelöst werden könnte. Die Fragestellung geht hierbei weit über die Konzepte der Freien Software-Bewegung hinaus. Es sind nicht vorwiegend KommunistInnen, die die Freie Software-Bewegung tragen, sondern hauptsächlich Bürgerrechtsliberalisten und sogar Wirtschaftsliberale (vgl. Meretz 2000). KommunistInnen greifen sie jedoch auf und meinen darin einen Ansatz gefunden zu haben, welcher ihnen eine neue, moderne Perspektive bietet.
Innerhalb dieser Arbeit kann nicht der Kommunismus selbst entworfen werden, es beschränkt sich die Analyse daher auf die folgenden Schritte: Zunächst wird Freie Software definiert und auf ihren Warencharakter sowie ihre Wertform hin analysiert, d.h. ob beides überhaupt zutrifft. Anschließend folgt eine Charakterisierung des „commonistischen“ Modells und eine kritische Auseinandersetzung damit, ob das Entwicklungsmodell Freier Software (Commonismus) zur Aufhebung des Kapitalismus bzw. zum Kommunismus führen kann.

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2. Was ist Freie Software?
Bevor erläutert werden kann, welche Kennzeichen eine Software zu Freier Software machen,
sollte definiert werden was Software an sich ist. Software ist ein Begriff, der in Abgrenzung zu Hardware die Gesamtheit ausführbarer Datenverarbeitungsprogramme und ihre dazugehörenden Daten bezeichnet und in diesem Sinne seit den 60er Jahren benutzt wird. Es handelt sich um kodierte Information, ausführbar gemachten Quellcode (engl.: source code). Zum besseren Verständnis sollte hierbei erwähnt werden, dass der Quellcode einer Software der von Menschen lesbare Code ist, welcher mit Hilfe eines Compiler genannten Übersetzungsprogramms erst in Maschinencode übersetzt werden muss, damit dieser auf Computern lauffähig ist. Der so erstellte Binärcode (0,1) ist dann aber von Menschen nicht mehr (ohne sehr großen Aufwand) zu entschlüsseln. Programme können verbreitet werden und auf Computern ablaufen, ohne dass der Quellcode mitgeliefert wird. Das ausführbare Programm ist nur maschinenlesbar und lässt sich ohne den zugehörigen Quellcode nicht verändern. Fehler können so nicht bereinigt, Verbesserungen nicht ergänzt werden. Derart verbreitete Software wird von der Freien Software-Bewegung als closed source, proprietäre oder un-freie Software bezeichnet.
Die von Richard Stallman geschriebene und von der Free Software Foundation (FSF) angenommenen Definition von Freier Software stellt klar, dass mit der im Englischen missverständlichen Bezeichnung free, frei im eigentlichen Sinne, und nicht kostenlos gemeint ist: „‚Free software‘ is a matter of liberty, not price. To understand the concept, you should think of ‚free‘ as in ‚free speech‘, not as in ‚free beer‘“ (Stallman 2004: 43) . Die den Benutzern der Software zugestandene Freiheit wird mit folgenden vier Freiheiten definiert:
● Freedom 0: The freedom to run the program, for any purpose.
● Freedom 1: The freedom to study how the program works, and adapt it to your needs. (Access to the source code is a precondition for this.)
● Freedom 2: The freedom to redistribute copies so you can help your neighbor.
● Freedom 3: The freedom to improve the program, and release your improvements to the public, so that the whole community benefits. (Access to the source code is a precondition for this.)
(ebda.)
2.1 Geschichte von Freier Software
Die Entstehungsgeschichte von Freier Software ist eng mit Richard Stallman, dem Autor der vorangehenden Definition verbunden. Als Stallman 1971 anfing, im Labor für künstliche Intelligenz des MIT zu programmieren, war fast jegliche Software per se „frei“. Der Quellcode
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von Programmen wurde auf Nachfrage herumgereicht und Modifikationen des Codes zur Anpassung an eigene Bedürfnisse waren durchweg üblich. Im MIT-Labor für künstliche Intelligenz erfuhr Stallman somit eine „Kultur des freien Wissensaustausches [...], eine Oase der konstruktiven Kooperation“ (Grassmuck 2004: 218), welche retrospektiv auch als frühe Phase einer sogenannten akademischen Hackerkultur bezeichnet wird (vgl. Raymond 1999: 8ff.).
Diese begann zu zerfallen, als Softwarehersteller Ende der siebziger Jahre den Quellcode ihrer Programme nicht mehr mitlieferten und das Urheberrecht sowie einschränkende Softwarelizenzen benutzten, um zu verhindern, dass auf Rechnern von Konkurrenten sowie auf den Rechnern von Endkunden ohne dafür zu bezahlen, ihre Software lief. Prominentestes Beispiel war das damals weit verbreitete Betriebssystem UNIX. Im Zuge dieser generellen Kommerzialisierung von Software war bis spätestens Anfang der achtziger Jahre fast sämtliche Software proprietär, d.h. unfrei geworden und es veränderten sich auch die Bedingungen im Labor für künstliche Intelligenz des MIT. Stallman gründete daher 1983 das GNU-Projekt. Ziel des Projektes war die Schaffung eines vollständigen, freien, Unix-kompatiblen Betriebssystems.
GNU ist ein rekursives Akronym und steht für „Gnu’s Not Unix“ (Stallman 2004: 33). GNU sollte ein Betriebssystem sein, das „funktional äquivalent zu Unix ist, aber keine einzige Zeile von AT&T geschütztem Code enthält und vor allem, das in freier Kooperation weiterentwickelt werden kann, ohne irgendwann dasselbe Schicksal zu erleiden wie Unix“ (Grassmuck 2004: 222). Daher kündigte Stallman seine Stelle am MIT 1984, denn das Ergebnis seiner Arbeit würde als Angestellter der Universität gehören, welche dadurch komplett die Vertriebsbedingungen der von ihm geschrieben Software bestimmen könnte (vgl. a. a. O.: 223).
Die rechtliche Basis für die Freie Software Bewegung kam mit der Gründung der Free Software Foundation (FSF) 1985 und vor allem mit der Schaffung einer auf dem Urheberrecht basierenden, freien Softwarelizenz im Jahr 1989, der GNU General Public License (GPL).
Die GPL ist bis heute die am häufigsten gewählte Lizenz für Freie Software. Sie bestimmt jedoch nicht nur die damit lizenzierte Software als frei, sondern führt erstmal auch das Prinzip des Copyleft ein. Dieses basiert zwar auf dem Copyright bzw. Urheberrecht, verlangt aber, dass sämtliche aus GPL-lizenziertem Programmcode abgeleiteten bzw. modifizierten Werke auch wieder unter eine freie Lizenz gestellt werden müssen. Das „Wissen“ bleibt somit dauerhaft frei verfügbar. Im 1985 erschienen GNU Manifesto begründet Stallman (2004: 38) diesen Grundsatz mit Kant:
This is Kantian ethics; or, the Golden Rule. Since I do not like the consequences that result if everyone hoards information, I am required to consider it wrong for one to do so. Specifically, the desire to be rewarded for one’s creativity does not justify depriving the world in general of all or
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part of that creativity.
Bis 1991 war GNU jedoch noch nicht komplett, es fehlte noch der zentrale Bestandteil eines jeden Betriebssystems, der sogenannte Kernel. Diese Lücke füllte damals der finnische Informatikstudent Linus Torvalds, welcher seinen selbst entwickelten Kernel Linux taufte und unter der GPL lizenziert. Die seitdem bestehende Möglichkeit, das komplett freie Betriebssystem GNU/Linux zu benutzen, hat sich bis heute zu einem weltweiten Netz von Entwicklern, Nutzern und Distributionen entwickelt, welche in fast allen gesellschaftlichen Bereichen GNU/Linux einsetzen.
2.2 „Freie Software“ oder „Open Source“?
In vielen Publikationen wird nicht von Freier Software sondern von Open Source Software
gesprochen. Technisch und lizenzrechtlich gesehen bezeichnen beide Begriffe in der Regel
auch die selbe Art von Software und werden daher oft als Synonyme gebraucht. Innerhalb
dieser Arbeit wird jedoch hauptsächlich von Freier Software gesprochen. Zum einen, da der Begriff Freie Software 14 Jahre früher in Gebrauch kam als der Begriff Open Source Software, zum anderen da er umfassender in seiner eigentlichen Bedeutung ist. Der Fokus bei Open Source liegt am offenliegenden Quellcode eines Programms. Offen zugänglicher Quellcode ist zwar eine notwendige Bedingung für Freie Software, jedoch keine hinreichende. Der Code kann im Open Source Sinne beispielsweise offen sein, seine Modifikation oder Weitergabe aber beschränkt. Der Begriff Open Source Software wurde 1998 auf dem Gründungstreffen der Open Source Initiative (OSI) geprägt, um der Wirtschaft eine Bezeichnung bieten zu können, welche das extrem effiziente Softwareentwicklungsmodell ohne die vermeintlichen Nachteile anpreist, die das Wort „free“ mit sich bringt. Zum einen die bereits erwähnte Doppelbedeutung mit kostenlos, zum anderen schreckte viele Investoren die normative Aufladung der von Stallmans „Bürgerrechtsliberalismus“ (Meretz 2000) geprägten Definition Freier Software ab. Durch die daraufhin folgende Spaltung der Entwicklergemeinde wird als Kompromissvorschlag
in einigen Publikationen seit mehreren Jahren auch die Bezeichnung Free/Libre Open Source Software (FLOSS) verwendet, welche jedoch als Pleonasmus nicht unbedingt mehr Sinn macht.
Einer der herausragendsten Vertreter der wirtschaftsliberalen Strömung der Bewegung und
Mitbegründer der Open Source Initiative, Eric Raymond, vertritt in seinem erstmals 1998 veröffentlichten Essay Homesteading the Noosphere die Ansicht, dass es auch in der Open-Source-Szene eine implizite Eigentumsauffassung gibt, welche er mit der Eigentumstheorie von
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John Locke vergleicht. Nach Lockes Verständnis von Landbesitz erwirbt jemand einen Besitztitel durch die Besetzung und Bearbeitung eines vorher unbewohnten Landes. Das Urbarmachen, das Bearbeiten, das Eingrenzen, kurz: das Homesteading des Landes steht somit im Mittelpunkt des Besitzanspruchs: „one can acquire ownership by homesteading, mixing one's labor with the unowned land, fencing it, and defending one's title“ (Raymond 1999: 93). Das individuelle Eigentum ist bei Locke demnach naturrechtlich begründet, und nicht, wie noch vor Locke, basierend auf vertraglichen Konventionen sowie ohne automatische Exklusion des Gebrauchs durch Dritte. Doch Raymond sieht Lockes', auf menschlicher Arbeit basierendes Verständnis von Eigentum als universelle Selbstverständlichkeit an und erwähnt andere Vorstellungen erst gar nicht. Und nicht nur das, er sieht dieses Verständnis auch in der Entwicklung Freier Software als implizit gegeben und fasst dies, frei übersetzt, als Landnahme der Noosphäre zusammen. Mit der Sphäre des menschlichen Geistes, von griechisch νοῦς (Nous), bezieht er sich auf Wladimir Wernadskis und Pierre Teilhard de Chardins Verständnis vom
„territory of ideas, the space of all possible thoughts“ (a. a. O.: 94). Wenn ein Entwickler ein Projekt ins Leben gerufen hat, so zeige er durch diese „Entdeckung“ dass er gewisse Ansprüche darauf erheben kann. In der von Raymond postulierten „Geschenkkultur“ der Open-Source-Gemeinschaft erlangen nun aber EntwicklerInnen ihre Reputation nicht durch Macht oder Besitz, sondern durch das Verschenken der Ergebnisse ihrer Arbeit. Raymond vergleicht dies explizit mit der akademischen Kultur. Raymonds Auffassung basiert auf der Behauptung einer nun entstehenden (immer noch kapitalistischen) „Post-Mangel-Gesellschaft“, welche diese Kultur des Schenkens ermögliche. Da Kapitalismus aber immer auch (sozial erzeugte) Knappheit bedeutet, ist seine Denkfigur eigentlich ein Widerspruch in sich.
Den grundlegenden Unterschied zwischen den Konzepten Open Source und Freie Software
charakterisiert Richard Stallman (2007: 2) folgendermaßen: „Open Source ist ein Entwicklungsmodell.

Freie Software ist eine soziale Bewegung. Für die Open-Source-Bewegung ist nicht-freie Software eine suboptimale Lösung. Für die Freie-Software-Bewegung ist nichtfreie
Software ein soziales Problem und Freie Software ist die Lösung“.

2.3 Die Lizenzfrage (oder die Rolle des bürgerlichen Rechts)
Es gibt ein ganzes Spektrum von Software-Lizenzen angefangen mit proprietärer Software
(closed source) über diverse Open Source Varianten bis hin zu Freier Software.1 Die proprietären Software-Lizenzen beziehen sich auf Fragen des ausschließlichen Eigentums und des

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Ausschlusses von Teilhabe. Die Freie Software-Bewegung beruft sich für die Durchsetzung
der Garantie von Teilhabe auf bestehende Urheberrechtsgesetze und will die Lizenzen auch
innerhalb des bestehenden Systems und seiner Rechtsprechung durchsetzen. Das Urheberrecht wird somit nicht ausgehebelt, sondern bestenfalls subversiv eingesetzt. An sich freie Lizenzen, die jedoch bestimmte Nutzungsformen ausschließen, z.B. kommerzielle Verwertung, den Einsatz in Unternehmen oder den Einsatz in bestimmten Bereichen wie Militär oder Atomindustrie gelten laut FSF als nicht-freie Software, da sie die in ihrer Definition genannte Freiheit 0 verletzen. Begründet wird dies hauptsächlich damit, dass bei einer Einschränkung der Nutzung die Gefahr bestehe, dass die Liste der einzuschränkenden Tätigkeiten jederzeit ausgeweitet oder deren Interpretation angepasst werden könnte, und somit Raum für Missbrauch biete. Die Frage nach dem emanzipatorische Gehalt von Handlungen durch Freie Software wird also aus der Sphäre des Rechts ausgelagert.
Das in dieser Arbeit gebrauchte Konzept von Freier Software bezieht sich hauptsächlich auf Lizenzen wie die GPL oder ihr ähnelnde mit einem Copyleft-Effekt, nicht auf eine der diversen Opensource-Lizenzen, denen oft wesentliche Merkmale der Freien Software fehlen.

2.4 Das Entwicklungsmodell von Freier Software
Eines der bestechendsten Merkmale von Freier Softwareentwicklung besteht darin, „dass alle ProjektteilnehmerInnen ausschließlich auf der Basis von Freiwilligkeit am Projekt teilnehmen“ (Meretz/Merten 2005: 299). Dies natürlich unter der Voraussetzung, dass die daran teilnehmenden dies nicht im Rahmen von Lohnarbeit tun, wie es zunehmend selbst von großen Firmen praktiziert wird. So produzierte Freie Software nennen Meretz und Merten „doppelt frei“, da in solchen Projekten allein die Selbstentfaltung der EntwicklerInnen den Fortgang des Projekts bestimme (vgl. a. a. O.: 296). Im Gegensatz dazu sehen sie „einfach freie“ Software, bei denen zwar das Endprodukt frei ist, die EntwicklerInnen jedoch in ihren Entscheidungen nicht frei, sondern an einen Auftraggeber gebunden sind (vgl. ebda.). Hierbei muss jedoch beachtet werden, dass die Verwendung der Formulierung „doppelt frei“ Verwechselungsgefahr mit dem Begriff von „doppelt frei“ nach Marx bietet, welche ihm zufolge den ArbeiterInnen zugeschrieben wird, welche zugleich frei von Eigentum an Produktionsmitteln sind und die Freiheit haben den Unternehmer zu wechseln.

Ein weiteres Merkmal des Entwicklungsmodells Freier Software besteht darin, dass die Projekte grundsätzlich selbst darüber entscheiden, welche Organisations- bzw. Koordinationsform sie sich geben. Maßgeblich für die meisten Projekte heutzutage ist jedoch das Vorbild
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des Entwicklungsmodells von Linux seit 1991: „GNU/Linux wird heute als Paradebeispiel einer Organisationsform betrachtet, bei der Tausende von Menschen in der ganzen Welt in einer selbst organisierten Zusammenarbeit ein komplexes Softwareprojekt entwickeln“ (Nuss 2006:77). Mit den durch die GPL vorgegebenen Freiheiten sind einige Elemente der Entwicklung bereits vorgegeben. Der Quellcode muss zum Beispiel offen zugänglich sein und jeder darf Modifikationen vornehmen. Beim Linux-Kernel kamen nun weitere Eigenschaften hinzu. Der Code wird häufig und in einem recht frühen Entwicklungsstand veröffentlicht. Dies bedeutet, dass in solchen sogenannten „beta releases“ noch viele Fehler, „Bugs“ genannt, enthalten sein können. Im Gegensatz zu proprietärer Software sind diese Fehler jedoch für jeden, der es wünscht, im Code einsehbar, und es besteht zudem auch für jeden die Möglichkeit, diese selbst zu beheben, da das Projekt grundsätzlich offen für Einsteiger bzw. deren Beiträge ist.

Für ein so großes und komplexes Projekt wie die Linux-Kernel-Entwicklung wäre dadurch eigentlich ein großes Durcheinander zu erwarten. Jedoch ist bei Linux wie bei vielen anderen Projekten genau das Gegenteil der Fall. Die so erzeugte Software ist von hoher, professioneller Qualität, welche in kritischen Systemen und auf hohem Anwendungsniveau ihre Verbreitung in Wissenschaft, Finanzwelt, usw. findet. Für ein hohes Entwicklungstempo bei gleichzeitig hoher Qualität bürgt anscheinend die Feststellung: „Given a large enough beta-tester and co-developer base, almost every problem will be characterized quickly and the fix obvious to someone“ (Raymond 1999: 41).
Eric Raymond vergleicht dieses Entwicklungsmodell mit einem großen, plappernden Bazar,
voll mit unterschiedlichen Agenden und Ansätzen (vgl. a. a. O.: 30). Das Gegenteil sieht er im Kathedralen-Modell, bei welchem einzelne oder in kleinen Gruppen arbeitende Entwickler in Isolation arbeiten und kein „beta release“ veröffentlichen, bevor sie selbst nicht davon überzeugt sind, es sei Zeit dafür (vgl. a. a. O.: 29). Bis zum Auftauchen von Linux war das von Raymond bezeichnete Kathedralen-Modell bei den meisten Freie Software Projekten noch die Regel. Und auch heute noch kann man nicht alle Projekte als reine basaar-orientierte Entwicklermodelle bezeichnen. Je nach Organisationsmodell gibt es feine Unterschiede, welche Elemente beider Modelle beinhalten. Raymonds simple Aufteilung hat hier daher eine deutliche Lücke.
Allen Freie Software-Projekten ist gemein, dass sie stets „work in progress“ sind (Nuss 2006: 79). Ein wirklicher Abschluss findet nicht statt, da immer wieder Fehler bereinigt werden, neue Ideen einfließen oder aufkommende Probleme gelöst werden müssen. Diese Neuerungen sind zudem Teil von Veröffentlichungen, „die sie eher nach Gesichtspunkten der Qualität frei-
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geben und nicht nach Gesichtspunkten kommerzieller Verwertungszwänge“ (ebda.). Volker
Grassmuck (2004: 235) schließt daher auf zwei grundverschiedene Modelle, die sich mit freier und proprietärer Software gegenüberstehen:
Hier der Quelltext als ein in geschlossenen Gruppen, unter Vertraulichkeitsverpflichtung gefertigtes Masterprodukt, das in geschlossener, binärer Form vermarktet und mit Hilfe von Urheberrechten, Patenten, Markenschutz und Kopierschutzmaßnahmen vor Lektüre, Weitergabe und Veränderung geschützt wird. Dort der Quelltext als in einer offenen, nicht gewinnorientierten Zusammenarbeit betriebener Prozess, bei dem eine ablauffähige Version immer nur eine Momentaufnahme darstellt, zu deren Studium, Weitergabe und Modifikation die Lizenzen der freien Software ausdrücklich ermutigen. Hier eine Ware, die dem Konsumenten vom Produzenten
verkauft wird, dort ein kollektives Wissen, das allen zur Verfügung steht. Hier konventionelle Wirtschaftspraktiken, die tendenziell immer auf Verdrängung und Marktbeherrschung abzielen. Dort ein freier Wettbewerb um Dienstleistungen mit gleichen Zugangschancen zu den Märkten. Der von Grassmuck erwähnte freie Wettbewerb um Dienstleistungen deutet auch darauf hin, dass die Entwicklung von Freier Software nicht ausschließlich in der Freizeit von Hobbyisten betrieben wird, die ihren Beitrag als Teil einer Geschenkkultur verstehen (vgl. Raymond 1999: 97ff.). Vielmehr gibt es auch hier Auftragsarbeiten, welche von hauptberuflich bezahlten EntwicklerInnen ausgeführt wird. Man vergleiche hier allein das Engagement von Sun Microsystems in der Entwicklung des freien Office-Pakets OpenOffice.org2. Die Vorteile für kommerzielle Anbieter liegen vor allem in der erleichterten Anpassbarkeit im Sinne von Kundenwünschen und dem Profitieren von Beiträgen anderer Anbieter sowie aus der Community.
Unabhängig davon, ob EntwicklerInnen Geld für ihre Beiträge bekommen, oder nicht, gibt es in der organisatorischen Gestaltung der Projekte einige gemeinsame Merkmale. So gibt es häufig ein sogenanntes Core-Team, in welchem die aktivsten EntwicklerInnen bzw. diejenigen, die am längsten dabei sind, grundsätzliche Entscheidungen treffen und die allgemeine Richtung des Projekts ausdiskutieren. Bei besonders großen Projekten gilt eher das sog. Maintainer- Modell (vgl. Meretz/Merten 2005: 299f.). Dort gibt es für einzelne Bereiche oder Module sogenannte Maintainer, welche als Ansprechpartner für diesen Bereich gelten und vor allem die Entwicklergemeinschaft koordinieren, sowie grundsätzliche Richtungsentscheide für ein Projekt vornehmen. Da die TeilnehmerInnen freiwillig am Projekt teilnehmen, können Entscheidungen nur getroffen werden, wenn der Konsens der wichtigen TeilnehmerInnen erreicht wird. Konsens meint hier nicht Einstimmigkeit, sondern Konsens ist vielmehr erreicht, wenn die TeilnehmerInnen einer Entscheidung nicht widersprechen müssen. Schafft daher eine MaintainerIn nicht, einen Konsens herbeizuführen, steht sie bald ohne TeilnehmerInnen da. Somit besteht eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen MaintainerInnen und anderen Pro-

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jektteilnehmerInnen (vgl. Meretz/Merten 2005: 300). Innerhalb einer erweitert gedachten
Community sind die Grenzen zwischen Usern, Beta-Testern, Personen die Fehler berichten
und EntwicklerInnen fließend bzw. oft in Personalunion vorzufinden. Aufgrund des nicht vorhandenen Zwangs, das Rad jedes Mal neu erfinden zu müssen, sondern ohne große Hürden auf bereits geschaffene Arbeit zurückzugreifen zu können, haben sich insbesondere
bei großen, komplexen Projekten wie beispielsweise kompletten GNU/Linux-Distributionen
sehr große Interdependenzen zwischen Programmen herausentwickelt, größer als dies bei Software allgemein schon der Fall ist. Dies verstärkt noch zusätzlich die bereits vorhandene Vernetzung zwischen den verschiedenen Projekten von Freier Software.

3. Freie Software im Kapitalismus
3.1 Freie Soft-Ware?

„Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung‘, die einzelne Ware als seine Elementform“
(MEW 23: 49). So beginnt Band I des Kapital. In der heutigen Phase des Kapitalismus erscheint das Internet, als notwendige Voraussetzung von Freier Software und deren Entwicklung, als eine unendlich reproduzierbare Warensammlung. Doch ist Freie Software überhaupt Ware, und hat dies mit der unendlichen Reproduzierbarkeit zu tun?
Die etymologische Herkunft von Ware lässt sich folgendermaßen zurückverfolgen. Das altenglische wær geht auf das germanische wēra (Adj.: wahr, Subst.: Vereinbarung Versprechung)
oder das mittelhochdeutsche war(e), „in Verwahrung Genommenes“ zurück und hat
die Bedeutung von (beweglichen) Gütern oder Produkten, die gehandelt, sprich gekauft und
verkauft werden können. Ein wirtschaftliches, materielles Gut also, das Gegenstand des Handels ist. Software ist das immaterielle Gegenstück zur materiellen Ware. Eine „nichthandelbare immaterielle Ware“ wie eine Definition von Freier Software lauten könnte, ist somit ein Oxymoron. Doch wie steht es mit der Bestimmung von Freier Software aus dem Warenbegriff bei Marx heraus? Ein Produkt ist nur dann eine Ware, wenn es zum Tausch nicht nur vorgesehen ist, sondern dieser auch erfolgreich stattfindet. Eine notwendige Bedingung hierfür ist dass neben einem Gebrauchswert auch ein Tauschwert
vorhanden ist. Ob diese notwendige Bedingung bei Freier Software zutrifft, wird im nächsten Kapitel behandelt. Eine Ware ist ein Produkt konkreter Arbeit. Derlei Produkte, welche je-
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doch nicht verkauft werden, fallen aus dem Warensystem heraus und bleiben lediglich Kandidaten für Waren. Unter Produkte konkreter Arbeit fallen auch Dienstleistungen bzw. „immaterielle Güter“, und sind somit unter bestimmten Bedingungen ebenfalls Waren. Damit erledigt sich auch das Argument, dass in der immateriellen Produktion, wie der von Software, Marx' Werttheorie nicht zuträfe (vgl. Heinrich 2004: 42).
Jedoch gibt es Einwände, die den Warencharakter bei Freier Software nicht erfüllt sehen.
„Freie Software ist keine Ware“ so die eindeutige These von Meretz/Merten (2005: 297). Sie sei vielmehr von Anfang bis Ende jenseits des Tauschprinzips angesiedelt, da der Bezug einer Freien Software nicht an das Erbringen von Leistungen gekoppelt sei. Es gäbe keine Konkurenz zwischen Freien Softwareprojekten und Freie Software habe sogar das „Zeug dazu, die Warenwirtschaft zu ersetzen“ (a. a. O.: 298). Als ein Kernelement der These wird darauf verwiesen, dass Freie Software aufgrund ihrer nahezu kostenlosen, unendlichen Reproduzierbarkeit nicht knapp sei. Allein diese Eigenschaft sei ein nachhaltiges Hindernis, Freie Software zu einer Ware zu machen.
Aufgrund der offensichtlichen Eigenschaft von Software als prinzipiell unter geringem Aufwand unendlich reproduzierbar, kann übrigens exemplarisch das Argument von der „natürlichen Knappheit“ von Gütern im Kapitalismus besonders leicht dekonstruiert werden. Denn diese Knappheit ist nicht irgendwie „von Natur aus“, sondern über die Warenform einer Ware qua Tauschwert vermittelt. Dass diese Knappheit bei Software als besonders künstlich und willkürlich erscheint, könnte für weitere gesellschaftliche Kreise den Blick schärfen: Bei Getreide beispielsweise liegt eine künstliche Verknappung des Angebots vor, wenn Bauern durch genetisch verändertes Saatgut gezwungen sind, jedes Jahr aufs Neue bei Monsanto einzukaufen, statt aus der eigenen Ernte Saatgut zu gewinnen.
Bei Freier Software herrscht hingegen erkennbarer Überfluss, und zwar „nicht nur beim Nehmen, sondern auch die Hineingabe ist potenziell unbegrenzt“ (ebda.). Dies ermöglicht auch die grundsätzliche Offenheit des Codes, welcher keine Betriebsgeheimnisse mehr zulässt. Zudem gibt es wirkliche Konkurrenz zwischen Freie Softwareprojekten laut Meretz/Merten nicht, nur ein Nebeneinander oder eine mehr oder weniger starke Kooperation. Dies legt für sie den Schluss nahe, dass Freie Software im Gegensatz zu proprietärer Software nach einem „Inklusionsmodell“ funktioniere.
Freie Software ist in der Epoche des Kapitalismus jedoch kein Einzelfall für ein Beispiel von nicht-warenförmigen Produkten. Im Rahmen von Hausarbeit, Familie, Ehrenamt usw. kooperierenden Menschen existiert zwar ein Wechsel von Stoffen und Informationen zwischen den
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Individuen, jedoch existiert kein Tausch, und damit keine Ware.

3.2 Welchen Wert hat Freie Software?
Laut Meretz/Merten hat Freie Software keinen Wert: „Freie Software ist wertlos – und das ist gut so!“ (Meretz 2000). Es wird von ihnen behauptet, dass die verschiedenen Geschäftsmodelle, mit denen Unternehmen im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise versuchen, mit Freier Software Kapital zu akkumulieren, sich (mit einer Ausnahme, dem Vertrieb Freier Software über sog. Distributionen) jenseits von „Buchstaben und Geist der GPL“ bewegen.
Die zahlreichen Open Source-Lizenzen, die nicht den strengen Richtlinien der GPL genügen, und somit dem „neoliberalen Modell Freier Software von Eric S. Raymond“ entsprechen, nimmt allerdings auch Meretz von dem Gütesiegel „Wertfreiheit“ aus (vgl. Meretz 2000). Ein Ergebnis von empirischen Studien lautet daher: „Open Source ist weder ein eigenständiger Markt, noch impliziert sie zwangsläufig ein bestimmtes Business-Model“ (Diedrich 2008).
Für die Bestimmung des Wert nach Marx gilt folgendes. Als Ware kann nur etwas bezeichnet
werden, was außer seinem Gebrauchswert auch einen Tauschwert besitzt: „Ware als ein Zwieschlächtiges, Gebrauchswert und Tauschwert“ (MEW 23: 56). Der Gebrauchswert ist hierbei Voraussetzung und Träger von Tauschwert: „Seine Ware [die des Warenbesitzers] hat für ihn keinen unmittelbaren Gebrauchswert. Sonst führte er sie nicht zu Markt. Sie hat Gebrauchswert für andre. Für ihn hat sie unmittelbar nur den Gebrauchswert, Träger von Tauschwert und so Tauschmittel zu sein“ (MEW 23: 100). Hierbei macht es nur Sinn vom Begriff „Gebrauchswert“ zu reden im Gegensatz zu Tauschwert, d.h. wenn es um kapitalistische Gesellschaft geht. Bei nicht-kapitalistischen Gesellschaften ist es daher vielleicht besser direkt von „Nutzen“ oder „Nützlichkeit“ zu reden. Da Freie Software nun nicht getauscht wird, handelt es sich bei ihrer Produktion um eine, „bei der die Nützlichkeit eines Produkts im Vordergrund steht, [und] ein absoluter Qualitätsanspruch in der Logik der ganzen Produktionsweise“ (Meretz/ Merten 2005: 297). Ein Tauschwert besteht somit für Freie Software nicht.
Dass Freie Software in der Regel keinen Preis hat, spielt dabei in der Wertermittlung keine Rolle. Als Beispiel seien nur die Handy-Vertragsangebote für 1 € genannt, bei welchen die Mobiltelefone sicherlich einen Tauschwert haben, ihr Preis sich aber über die Vertragskosten erst zeigt. Auch das Gegenteil ist für Marx möglich, ein Preis ohne Tauschwert. Dinge, die nicht Arbeitsprodukt sind, die daher auch keinen Wert haben, können verkauft werden und somit einen Preis haben, bspw. unkultivierter Boden oder das eigene Gewissen. „Ein Ding kann ... formell einen Preis haben, ohne einen Wert zu haben“ (MEW 23: 117). Somit ist
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es auch möglich, dass Freie Software zu einem bestimmten Preis verkauft wird. Hier muss beachtet werden, dass die Quelle des Werts, d.h. die Wertsubstanz, gesellschaftliche Arbeit ist.
Wert erhält Freie Software nur dann, wenn ein Weg gefunden wird, sie der Allmende zu entreißen und wieder einem Verwertungsregime einzugliedern, z.B. durch eine Lizenänderung
des Maintainers, durch Doppellizensierung, was inzwischen oft schon die Regel darstellt,
usw. Entsprechend der Thesen von Meretz/Merten heißt das, dass Freie Software nur dann
keinen Wert hat, wenn sie eine Freie Lizenz (im Sinne des Copyleft) besitzt und in Meretz' Sinne "doppelt frei" ist. Demzufolge kann Freie Software, die unter den Bedingungen von Lohnarbeit erstellt wird, Wert besitzen. Die Höhe des Werts bemisst sich nach der gesellschaftlich durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit für das Erstellen der Software. Dieser Wert bestimmt sich unabhängig von der Bepreisung oder dem Erfolg eines Produktes auf dem Markt. Kann eine durch abstrakte Arbeit zustandegekommene Software nicht mehr verkauft werden, weil der Preis zu hoch oder das Angebot aufgrund von Überfluss nicht mehr knapp ist, realisiert sich der Wert nicht. Freie Software im privatkommerziellen Unternehmen ist ein Verwertungs-Modus der besonderen Art. Ein möglicher Wert von Freier Software gilt jedoch nicht für Dienstleistungen, welche nur auf Freie Software aufbauen, da für diese Freie Software
lediglich ein Produktionsmittel ist, welches als Allmende, so wie beispielsweise das Wasser eines Flusses für eine Mühle, frei zugänglich und benutzbar ist. Da inzwischen Freie Software im Rahmen von regulären Beschäftigungsverhältnissen produziert wird, stellt sich daher auch die Frage, was die Unternehmen – es sind nicht nur öffentliche Arbeitgeber – davon haben, Allmende produzieren zu lassen?

3.3 Abstrakte gesellschaftliche Arbeit und die Produktion Freier Software

Abstrakte Arbeit verhält sich zur konkret-nützlichen Arbeit wie der Wert zum Gebrauchswert. Während keine Gesellschaftsformation ohne konkret-nützliche, d.h. am Gebrauchswert orientierte Arbeit auskommt, zeichnet sich eine auf Warenproduktion basierenden Gesellschaft dadurch aus, dass wertbildende Arbeit als abstrakte Arbeit fungiert und der Gebrauchswert lediglich Mittel zum Zweck ist. Den Doppelcharakter der Ware (Gebrauchswert und Tauschwert zu besitzen), seine „zwieschlächtige Natur“, kommt laut Marx durch die in der Ware enthaltene Arbeit zustande (vgl. MEW 23: 56f). Der Wert einer Ware entspricht der für sie geleisteten abstrakten Arbeit, der Gebrauchswert die in ihre dargestellte konkret nützliche Arbeit.
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Doch warum sollte ein Unternehmer Arbeit (in der Softwareentwicklung) bezahlen, wenn es
sich für ihn nicht lohnt? Gerne wird an dieser Stelle auf die Verwertungsmöglichkeiten mit Support, Wartung, Dokumentation um die Software herum argumentiert. Aufgaben wie Installation Betrieb, Konfigurationen, Fehlerbereinigungen, Customizing und die Umsetzung von Sonderwünschen des Kunden, etc. erfordern ein erhebliches Know-How und entsprechendes Personal, das gerade bei dem Unternehmen bereit steht, das an der Entwicklung einer Freien Software beteiligt ist. Das tangiert jedoch nicht die Verwertungsmöglichkeiten des Quellcodes selbst.
Eine andere Antwort ist, dass der Unternehmer Wege finden muss, die Software zu verknappen ohne die Lizenzbedingungen zu verletzen. Dazu bieten sich u.a. folgende „Geschäftsmodelle“
an (vgl. Diedrich 2008):
● Das Schlupfloch der Doppellizenzierung zu nutzen, die es ermöglicht, ein- und die selbe Software einmal mit einer freien und einmal mit einer unfreien Lizenz zu versehen
und eben letztere der Verwertung zuzuführen
● Freie Software mit einer unfreien Software zu kombinieren und das Gesamtergebnis
zu verwerten. Dem steht eigentlich entgegen, dass bei einer Lizenz die sog. Viruseigenschaft bzw. das Copyleft-Prinzip greift und die mit ihr kombinierte Software ebenfalls der Freien Lizenz unterworfen sein muss. Schon die leicht abgeschwächte Lizenz
namens LGPL macht diese Voraussetzung nicht mehr, wird aber dennoch als Freie Software bezeichnet.
● Freie Software, die nicht verbreitet wird, sprich nur abgeändert und dann z.B. im Hostingbetrieb für Kunden eingesetzt wird, muss selbst bei GPL-ähnlichen Lizenzen nicht
offengelegt werden und erzielt über diesen Hebel die gleiche Wirkung wie eine
Dienstleistung unter Knappheitsbedingungen.
● Eine weitere Grauzone ist der Bereich, der definiert, wann die Kombination einer Freien Software mit einer weiteren Software dazu führen muss, dass das Ergebnis wieder
unter die freie Lizenz fällt. „Wenn identifizierbare Teile des Werkes nicht von dem
Programm abgeleitet sind und vernünftigerweise als unabhängige und eigenständige
Werke für sich selbst zu betrachten sind, dann gelten diese Lizenz und ihre Bedingungen
nicht für die betroffenen Teile, wenn Sie diese als eigenständige Werke weitergeben“
(FSF 1991). Mit einer wenig strengen Interpretation dieses Passus ist es möglich,
Freie Software mit unfreier Software zu kombinieren und zu verwerten.
● Freie Software kann von seinem Maintainer, z.B. einem Unternehmer, zu einem ge-
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wissen Zeitpunkt, bspw. wenn die Software einen größeren Versionssprung gemacht
hat, unter eine andere, weniger Freie Lizenz gestellt werden. Die vorangegangene Version
der Software bleibt zwar der Allmende erhalten, wird aber aufgrund des geringeren
Reifegrades oder Funktionsumfangs deutlich weniger attraktiv sein als die neulizensierte
Software, die einer Verwertung zugeführt wird.
● Distributionen, also Zusammenstellungen von Freier Software und Open Source Varianten
auf CDs und DVDs werden teilweise von Unternehmen geleistet, die privatwirtschaftlich
orientiert sind. Eine Technik, ihre Software-Zusammenstellung zu versilbern
ist das Programmieren von nicht-Freien Installationsprogrammen, die jedoch erforderlich
sind um die Distribution auf bequeme Art und Weise in Betrieb zu nehmen.
Bislang galt: Freie Software wird ausschließlich in „Nischen“ kapitalistischer Vergesellschaftung geschaffen (Uni, private Selbstausbeutung), die ohne die kapitalistische Lohnarbeit nicht existieren würden. Zu Beginn der Entstehung von Freier Software war dies tatsächlich so. Inzwischen gibt es jedoch eine Reihe von sog. Global Players (IBM, Sun Microsystems, Intel, etc.) welche EntwicklerInnen hauptberuflich für die Produktion Freier Software beschäftigen.
Neben den bereits erwähnten Vorteilen bedeutet es für diese Firmen auch, dass wenn sie sich an der Entwicklung eines selbständigen freien Softwareprojekts beteiligen, sie einen Fuß in der Tür dieses Projekts haben und sowohl die Entwicklungsrichtung mitbestimmen als auch von der Arbeit der Community profitieren können.3 Die Beteiligung großer Software-Konzerne an Freier Software hat einen vergleichbaren strategischen Stellenwert wie die Mitarbeit derselben Konzerne in Standardisierungsgremien.

3.4 Kapitalistische Produktionsweise und Freie Software/Open Source
Für jede Gesellschaftsformation gibt es ein spezifisches Entsprechungsverhältnis zwischen
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dem je aktuellen Stand der Produktivkraftentwicklung, was nicht nur technisch gemeint ist sondern die Summe menschlicher Fähigkeiten umfasst, und den Produktionsverhältnissen als den gesellschaftlichen Bedingungen unter denen produziert wird, z.B. freie Assoziation, Ausbeutungsverhältnisse, Sklavenarbeit, etc., was Marx unter dem Begriff Produktionsweise zusammenfasst.
Unter den Bedingungen des heutigen Kapitalismus und seiner hochtechnologischen Produktionsweise sind die Produktivkräfte sehr weit entwickelt.4 Gerade in ihren entwickeltesten Bereichen werden die Potenziale immer wieder durch Produktionsverhältnisse begrenzt, die teilweise anachronistisch wirken. Im Bereich der Informationstechnologien scheint selbst das Kapital zu der Einsicht zu gelangen, dass neue Formen der dezentral vernetzten Zusammenarbeit wie sie durch Informationstechnologien ermöglicht werden, profitabler sind als traditionelle Formen entfremdeter Arbeit unter den Prämissen des Ausschlusses und der Arbeitsteilung,
selbst wenn damit Teilautonomie und Selbstorganisation Einzug in die Arbeitsorganisation
halten.
Die Modelle zur Arbeitsorganisation in Softwareprojekten wie bspw. SCRUM, Extreme Programming oder Agile Softwareentwicklung füllen die Seiten der Managementliteratur zumindest für den Sektor der Informationswirtschaft und lösen hinsichtlich ihres Hypes ältere toyotistische Managementmodelle, die zuerst in der Automobilproduktion Verwendung fanden, wie Lean Production, Just-in-time-Produktion, etc. ab bzw. entwickeln sie weiter. Keine Softwarefirma kommt heute mehr ohne Entwicklungswerkzeuge wie Versionskontrollsysteme, oder Bugtrackingsysteme aus, die ursprünglich in Freien Softwareprojekten ihren Anfang nahmen. Man könnte daher letztlich darauf schließen, dass die Adaptionsfähigkeit des Kapitalismus evtl. stärker wiegt, als das Potenzial der Freien Software, die „ganze alte Scheiße" (MEW 3: 35) aufzuheben und sie zu überwinden.

4. Vom Commonismus zum Kommunismus?

Die folgenden Fragen ergeben sich sowohl aus dem bisher diskutierten, als auch aus den
Überlegungen des Oekonux-Projekts heraus. Ist das Entwicklungsmodell Freier Software nur ein Hobby innerhalb einer gesellschaftlichen Nische und somit Teil der kapitalistischen Produktionsweise, so wie Tätigkeiten innerhalb der Familie oder ehrenamtliche Freiwilligenarbeit? Oder ist es schon eine Keimform für etwas neues innerhalb des Alten? Oder sehen wir am Ende gar nur eine erneuerte, d.h. renovierte

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Variante des Kapitalismus damit aufziehen? Wie lässt sich die folgende Feststellung erklären? „Im Gegensatz zu allen früheren Beispielen konnte sich freie Software aber nicht nur eine Nische sichern, sonder wächst im Gegenteil immer weiter und wird nach und nach zu einer ernsten Bedrohung für die proprietäre Software“ (Meretz/Merten 2005: 298). Bringt Freie Software eine Voraussetzung für einen Verein unmittelbarer Produzenten? Entspricht Peer-Ökonomie bzw. Commonismus dem Kommunismus bzw. der kommunistischen Produktionsweise wie Marx sie entwarf?
Für den Versuch einer Klärung dieser Fragen wird zunächst erörtert, was unter Kommunismus in Marx' Sinne zu verstehen ist. Anschließend werden die bestehenden Konzepte von Peer-Ökonomie bzw. Commonismus vorgestellt und zum Schluss erfolgt die Diskussion inwiefern diese Modelle bereits als Keimform in der derzeitigen Gesellschaft vorliegen.
4.1 Was heißt Kommunismus?
Kommunismus wird meist negativ definiert, d.h. in der Abwesenheit von bestimmten Rahmenbedingungen des Kapitalismus, wie die Warenförmigkeit von Beziehungen. Es ist das
Unbekannte, das noch zu schaffen ist. Es ist weit mehr als eine (verwertungsfreie) Organisationsform der Produktion, und bezieht sämtliche Bereiche und Verhältnisse der Gesellschaft mit ein, also Herrschaftsverhältnisse, Ausbeutung, Geschlechterverhältnisse ebenso wie andere Ungleichheitsverhältnisse, die es abzuschaffen gilt: „daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1: 385). „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen
und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist“ (MEW 4: 482). D.h. auch bei Marx wie bei Freier Software ist Freiheit ein Teil der Formel.
Konkretere Vorstellungen von Marx zu Kommunismus bzw. zum Übergang dorthin sind, wie
seine gesamte systematische Arbeit, leider Fragment geblieben. Man sieht sie bspw. in der Kritik des Gothaer Programms, wo auch der bekannte Satz „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ zu finden ist:
In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen - erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschrit-
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ten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen! (MEW 19: 21)
Ebenso finden wir darin: Womit wir es hier zu tun haben, ist eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eignen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt. (MEW 19: 20).
„Der Kommunismus ist eine Produktionsweise“ (Andreani 1986: 680). Was genau ist uns darüber aus Marxens Sicht bekannt? Für die einen KritikerInnen hat er zu viel gesagt, insbesondere zuviel Utopisches, für die anderen hat er viel zu wenig gesagt und zu viel offen gelassen (vgl. Andreani 1986: 678f.). Welche Anhaltspunkte hierfür lassen sich finden?
Der Großteil davon befindet sich in der bereits erwähnten Kritik des Gothaer Programms. Deren historische Rezeption war jedoch in vielen Fällen mindestens zweifelhaft bis verfälschend. So haben Lenin und Trotzki bspw. eine Übergangsphase zwischen Kapitalismus und Kommunismus herausgelesen, welcher dann von ihnen die Bezeichnung sozialistische Produktionsweise gegeben wurde. Marx spricht jedoch eigentlich von einer historischen Sequenz von wie im Folgenden beschriebenen drei Phasen. Die erste Phase ist relativ kurz, in ihr herrscht die revolutionäre Diktatur des Proletariats, in welcher die Expropriation der Expropriateure erfolgt. Diese Phase ist für Marx bereits kommunistische Produktionsweise. Die anschließende zweite Phase ist für Marx zugleich die erste Phase des Kommunismus, und somit nicht, wie von Lenin behauptet, gleichbedeutend mit Sozialismus. Sie ist zwar, wie bereits zitiert, noch mit den „Muttermalen der alten Gesellschaft“ (MEW 19: 20) behaftet, jedoch gibt es in ihr schon keine Warenverhältnisse und keine Klassen mehr, und somit auch keinen Staat als politische Macht einer Klasse. Die „Muttermale“ sind hier noch hauptsächlich der Austausch zwischen Arbeitslieferungen und Konsumtionsmitteln (vgl. Andreani 1986: 680). Die dritte Phase schließlich, und somit die zweite Phase des Kommunismus, zeichnet sich durch das Verschwinden der Arbeitsteilung sowie einer Verteilung nach den Bedürfnissen aus.
Als Grundlage für die Produktionsverhältnisse des Kommunismus sieht Marx das Gemeineigentum der assoziierten Arbeiter, wobei Eigentum hierbei die Ausübung bestimmter „gesellschaftlicher Funktionen“ (MEW 19: 28) meint, und nicht die Eigentumsvorstellung des bürgerlichen Rechts, welche sich noch in der ersten Phase des Kommunismus vorfinden ließe. Die kommunistische Produktionsweise ist deshalb nicht mehr Warenproduktion, da die Trennung zwischen den einzelnen Produktionseinheiten nicht mehr besteht und die assoziierten
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Arbeiter ihre Produktion nach einem Plan organisieren. Diese Organisation ist nun freiwillig und wird nicht mehr als eine äußere, fremde Gewalt von den Arbeitern wahrgenommen. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass diese Planung von Marx nicht zentralisiert gedacht war, sondern eher den dezentralistischen Konzeptionen der Pariser Kommune entsprechend (vgl. Andreani 1986: 681).
Was die Aufteilung der Produktion angeht, so müssen laut Marx auch die assoziierten Produzenten sowohl notwendige Arbeit als auch Mehrarbeit leisten. Die Mehrarbeit wird dabei für mehrere Fonds reserviert werden müssen. Zunächst einen Fonds für diejenigen, die nicht arbeitsfähig sind, dann einen Reservefonds für unvorhergesehene Zwischenfälle, einen Akkumulationsfonds, sowie einen Fonds für unproduktive Arbeit, zum Beispiel innerhalb der Verwaltung der Arbeit (vgl. a. a. O.: 681f.).
Dass für Marx in der ersten Phase des Kommunismus noch das Prinzip des äquivalenten Austauschs von Konsumgütern nach geleisteter Arbeit besteht, wird von mehreren Seiten kritisiert bzw. als „Schnitzer“ (a. a. O.: 682) bezeichnet, da gerade dieses Prinzip der Rechtfertigung von Lohnhierarchie und Stücklohn im Kapitalismus diene und laut Marx selbst eigentlich untrennbar mit dem kapitalistischen Lohnsystem verbunden sei. Eine Bezahlung nach dem Arbeitsertrag lässt daher noch die Tür offen für den Fortbestand der Arbeitsteilung und von Ausbeutung. In der zweiten Phase des Kommunismus wird dagegen jeder „nach seinen Bedürfnissen“ (MEW 19: 21) arbeiten können.

4.2 Was heißt Commonismus?
Unter Peer-Ökonomie bzw. unter Commonismus wird von den VertreterInnen des Oekonux-
Projekts eine Produktionsweise verstanden, welche sich prinzipiell von marktwirtschaftlicher und zentralverwaltungswirtschaftlicher Produktion unterscheide. Dabei wird die Praxis der Produktion von Freier Software in die Produktion jeglicher Güter, materielle wie immaterielle, übertragen. Der Anspruch, eine der kommunistischen Produktionsweise entsprechende Produktionsform gefunden zu haben, kann sich jedoch nur erfüllen, wenn dadurch der Kapitalismus aufgehoben werden kann, ohne dabei gleichzeitig hinter seine Vorzüge zurückzufallen (vgl. Siefkes 2009: 2). Für die UnterstützerInnen des commonistischen Modells, d.h. insbesondere für Siefkes, bietet dieses auch Antworten auf Fragen und Probleme, die von Marx bezüglich der kommunistischen Produktionsweise unbeantwortet blieben: „Wie soll man die Produktivität der verschiedenen Produktionszentren einander angleichen? Wie soll man die
Arbeitsverausgabung von einem Arbeitsplatz zum anderen und von einer Branche zur anderen
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vergleichen und ausgleichen? [...] Marx und Engels sehen nicht [...] die Schwierigkeiten einer geplanten Wirtschaftsführung, insbesondere auf der Ebene der Kalkulations- und Kommunikationsmittel“ (Andreani 1986: 683).
Folgende Merkmale der kapitalistischen Produktionsweise werden dabei als überwunden deklariert. Ihr Fetischismus, der die wirklichen Verhältnisse, d.h. die Beziehungen zwischen Personen, systematisch verzerrt. Deren Krisenhaftigkeit mit ihren unvermeidlichen zyklischen Krisen. Die aufgrund der Konkurrenz und des Zwangs zum Wachstums im Kapitalismus bestehende Destruktivität gegenüber menschlichen Arbeitskräften und der Natur. Die der kapitalistischen Produktionsweise inhärente Ausbeutung, aufgrund derer die ArbeitskraftverkäuferInnen länger arbeiten müssen, als zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse notwendig ist.
Dabei sind diejenigen schlimmer dran, die nicht einmal ausgebeutet werden.
Für die nun folgenden Merkmale der „commonsbasierten Peer-Produktion“ (Siefkes 2009: 5)
gilt die Nicht-Warenförmigkeit digitaler Güter als Voraussetzung. Die Scheidung zwischen
Produktionsmittel-EigentümerInnen und ProduzentInnen wird aufgehoben. Natürliche Ressourcen und Produktionsmittel werden zu Commons, die in gemeinsamen, auf Absprachen
und loser Koordination basierenden Produktionsprozessen gestaltet und genutzt werden. Die Peer-Produktion basiert auf Beiträgen und nicht auf Tausch, und es ist der Gebrauchswert und nicht der Tauschwert, der die Teilnehmenden motiviert. Die Peer-Produktion basiert auf freier Kooperation und nicht auf Zwang oder Befehl. Trotz möglicher vorhandener Strukturen und Hierarchien bestehen keine strukturellen Abhängigkeitsverhältnisse, sondern eine Kooperation zwischen Gleichen (Peers). Niemand ist gezwungen zu gehorchen, oder kann anderen befehlen.
Die formale Vertragsfreiheit des Kapitalismus wird dabei übertroffen. An die Stelle
der unpersönlichen Abhängigkeitsverhältnisse treten aber auch keine persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse, sondern eine „allgemeine Abhängigkeit aller von allen“ (Siefkes 2009: 20). Die Organisationsweise bei Peer-Projekten ist „stigmergisch“ (a. a. O.: 7), d.h. eine von jemandem begonnene Arbeit hinterlässt Zeichen (stigmata), die andere dazu anregen, sie fortzusetzen. Es bleibt hierbei jedoch jedem selbst überlassen, welche Aufgaben er/sie erledigt. Unterschiedliche Kenntnisse und Fähigkeiten werden so optimal eingesetzt, da jedeR macht, was er/sie sich zutraut. Wobei wie auch bei der Produktion Freier Software eine Qualitätsprüfung stattfindet und nicht alle Beiträge akzeptiert werden. Die Konzepte der Produktion sind alle bewusste Konventionen, nicht wie bei der Wertbildung Prozesse, die sich „hinter dem Rücken
der Produzenten“ (MEW 23: 59) vollziehen. In der Peer-Ökonomie wird daher von Anfang an
für den bereits bekannten oder abgeschätzten gesellschaftlichen Bedarf produziert. Die Pro-
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duktion ist also von vornherein gesellschaftlich. Notwendige Arbeit wird unter den Menschen nur aufgeteilt, es besteht somit kein Zwang zur Konkurrenz. Damit entfällt auch die Destruktivität gegenüber der Natur und den Menschen.
Eigentlich sehen wir hier eine arbeitsteilig tief gestaffelte, international vernetzte Praxis, in der die Wert- und Herrschaftsförmigkeit und damit die Kapitalverhältnisse aufgehoben sind. Der Genuss an schöpferischer Tätigkeit und am selbst geschaffenen Produkt ist darin wie bei der Entwicklung von Freier Software die entscheidende Triebkraft des Entstehens von nützlichen Dingen, die zudem auch noch allgemein ohne äquivalente Gegenleistung zugänglich sind. Kein äußerlicher Zwang treibt hier die Akteure, keine Notwendigkeit, Ansprüche auf die Leistungen anderer zu akkumulieren, keine Verpflichtung, Äquivalente zu bieten. Antrieb ist weder Askese noch Uneigennützigkeit und die gesellschaftlichen Bedürfnisse werden effektiv erfüllt. Die zur Bedürfnisbefriedigung notwendige Arbeit enthält auch weniger Redundanzen, da keine Konkurrenz wie im kapitalistischen Sinne besteht. Da materielle Güter jedoch nicht unendlich reproduzierbar sind, führt nun Siefkes in seinem persönlichen Modell der Peer-Ökonomie wieder die Kopplung von Arbeitsleistung und Güterbezug ein und gibt ihr die Bezeichnung Pool-Modell. Dieser sei als Verteilungspool grundsätzlich offen und verteile auch Aufgaben. Das Pool-Modell teilt er in zwei Submodelle. Zum einen in das bereits bekannte Flatrate-Modell: Der Gesamtaufwand der Produktion wird auf die Gesamtheit der KonsumentInnen aufgeteilt, aber unabhängig von der individuellen Konsumtion.
Über dieses Modell sei in Siefkes gesellschaftliche Entscheidung nötig, welche Güter
so produziert werden. Das andere Submodelle nennt er proportionales Allokationsmodell:
KonsumentInnen geben den Produktionsaufwand in selbem Maße dem Pool zurück, wie sie
ihm entnehmen, um so zu erreichen, dass auch unangenehme Arbeiten erledigt werden. Dies
soll nicht nur über die Abrechnung von Arbeitszeit geschehen. Sein Vorschlag lautet: Je weniger Leute bereit sind, eine Aufgabe zu übernehmen, je mehr Gewichtung bekommt sie (größer
1). Dass er hierbei den bereits erwähnten „Schnitzer“ von Marx nicht nur wiederholt, sondern die Kopplung auch noch verfestigt, indem er sie nicht einmal in eine Übergangsphase packt, ist kaum zu übersehen. Dementsprechend kritisch wurde seine Vorstellung auch rezipiert.
Ebenso problematisch ist seine Gegenüberstellung von Besitz und Eigentum. Seiner Meinung
nach basiere die Peer-Produktion auf Gemeingütern und Besitz, nicht auf Eigentum. In Privatbesitz befindliche Produktionsmittel „fungieren als Besitz (etwas, das man benutzt), nicht als Eigentum (etwas, das man verkaufen oder verwerten kann)“. Dies ist bei fungierenden Kapitalisten aber bereits in vielen Fällen auch nicht anders. Freier Unternehmerwillen wird dadurch
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ausgedrückt, dass sie mit fremdem Eigentum umgehen.

4.3 Keimform einer neuen Gesellschaft?
„Wo und wie ist anzusetzen innerhalb der vorgefundenen und zunächst die gesamte Reproduktion beherrschenden kapitalistischen Vergesellschaftungsform, um in diese sozusagen von innen eine Bresche zu schlagen und aus ihr herauszukommen, erste Schritte zu tun, einen formulierbaren Anfang der sozialen Emanzipation zu setzen?“ (Kurz 1997)
In Meretz/Merten (2005: 303ff) wird quasi in Beantwortung dieser von Kurz in seinem Artikel „Antiökonomie und Antipolitik“ aufgeworfenen Frage, vermutet, dass das Entwicklungsmodell Freier Software die Keimform einer neuen Gesellschaft darstelle. Die neue Gesellschaft wird in Anlehnung an die einflussreichste Lizenz der Freien Software Bewegung als „GPL-Gesellschaft“ bezeichnet.
Mit Verweis auf einen Artikel von Kurz, der die Keimformthese seinerseits im Hinblick auf die mikroelektronische Revolution entwirft und unter Einsatz eines sog. Fünfschrittmodells, das aus der Kritischen Psychologie (Holzkamp 1983) entlehnt ist, wird beschrieben, wie innerhalb einer alten Gesellschaftsformation zunächst nur in Ansätzen etwas qualitativ neues, die Keimform entsteht. Wie das alte Modell in die Krise gerät, das Neue zur dominanten Größe heranwächst und schließlich alle Aspekte des Gesamtprozesses in Bezug auf das Neue umstrukturiert werden folgen im Anschluss. Der Prozess sei hinsichtlich seiner Dauer oder seines Ergebnisses nicht determiniert und die Bezeichnung Keimform impliziere nicht automatisch, dass das Neue sich letzlich auch durchsetze.
Teile dieser periodisierenden Abfolge von fünf qualitativen Entwicklungschritten erinnern entfernt an das gramscianische Hegemoniekonzept, mit dem Machtgewinnungs- und -ausübungsformen zwischen Staaten, Gruppen von Staaten und Gruppen innerhalb von Staaten
(z.B. zwischen herrschenden und subalternen Klassen) analysiert werden, ohne jedoch die
Flexibilität des Hegemoniebegriffs zu erreichen oder die Menschen und ihre Handlungsfähigkeit im gleichen Ausmaß in den Mittelpunkt zu stellen. Immerhin kann mit der Keimformthese aber ein dialektisches Nebeneinander unterschiedlicher und widersprüchlicher Produktionsweisen innerhalb einer Gesellschaft beschrieben werden und somit das Problem vermieden werden, das Kurz wie folgt beschreibt: Die angebliche Blindheit des Marxismus für die „Frage des Übergangs, der praktischen Transformationsbewegung, des berühmten ‚Herankommens‘ an eine nicht-wertförmige Reproduktion“ (Kurz 1997). Während Kurz es in seinem Artikel von 1997 noch nicht gelingt, zu entwickeln, wie die „Mi-
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kroelektronik als universelle Rationalisierungs- und Kommunikationstechnologie“ (ebda.) die Transformation zu einer neuen Gesellschaft befördern kann, meinen Meretz und Merten beinahe ein Jahrzehnt später in dem Entwicklungsmodell für Freie Software eine gesellschaftliche Form gefunden zu haben, die die kapitalistische Produktionsweise in Frage stellt, sich in ihr zur Reife entwickelt und darüberhinaus das Potenzial besitzt, das Zeitalter einer kommunistischen Produktionsweise einzuläuten. Mit Hintergrundwissen aus der Informatik, Erfahrungen aus der Praxis der Freien Softwareentwicklung und einem Schuss utopischen Voluntarismus gelingt es ihnen, die bei Kurz noch vorhandene Lücke zu schließen und mit einem konkreten Fallbeispiel einer Keimform auf dem letzten Stand der Produktivkraftentwickung im hochtechnologischen Kapitalismus zu argumentieren. Freilich sind auch sie sich nicht sicher, ob wir uns erst in Phase 1 (Entstehung der Keimform) oder bereits in Phase 3 (Keimform wird zur wichtigen Entwicklungsdimension) befinden. Wichtig ist ihnen aber vor allem, die Debatte nicht auf das Feld der Informatik und die Produktion immaterieller Güter zu begrenzen, sondern das hier vorgefundene Entwicklungsmodell auch auf andere gesellschaftliche Bereich und insbesondere unter Einbezug von Technologien wie Robotern und sog. Fabbern auf die materielle Produktion zu verallgemeinern.
Gegen die These der Keimform von Freier Software haben sich jedoch prominente Stimmen
wie Sabine Nuss und Michael Heinrich ausgesprochen. Ein dominierendes Merkmal kapitalistischer Produktion sei nach wie vor (künstliche) Verknappung, sowohl in der materiellen Produktion industrieller Güter, als auch in der digitalen Sphäre (vgl. Nuss 2006: 205ff.). Nuss und Heinrich kritisieren den positiven Bezug auf Freie Software und dessen angeblich systemsprengendes Potential. Es sei eine Illusion, dass sich Freie Software der Verwertung entziehe.
In der Analyse von Meretz/Merten werde Verwertung mit Verkauf gleichgesetzt, aber
der profitable Einsatz Freier Software finde bereits im Produktionsprozess statt und in der Verwertung von Dienstleistungen rund um das Produkt. Die Potentiale zur Selbstentfaltung werden von Unternehmen ausgenutzt. Die neue (GPL-)Gesellschaft, auf die der Begriff „Freie Software“ laut Meretz verweist, sei ein modernisierter Kapitalismus. Zugestanden wird jedoch, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln sich nicht mehr ausschließlich in der Hand der Unternehmen befinde (vgl. Nuss/Heinrich 2001).
So betrachtet steht das Konzept der Entwicklung Freier Software, was die Arbeitsorganisation und die Lizenzbedingungen angeht, nicht im Widerspruch zum Kapitalismus. Weder schließen die Lizenzen Lohnarbeitarbeitsverhältnisse oder Privateigentum aus, noch den Einsatz privatwirtschaftlicher Geschäftsmodelle zur Verwertung von Dienstleistungen rund um die
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Produkte Freier Software. Dies wären jedoch notwendige, wenngleich noch nicht hinreichende Voraussetzungen für kommunistische Produktionsweise (vgl. Adriani 1986). Eine in einem nPrivatunternehmen unter den Bedingungen von Lohnarbeit entwickelte Software, die aus Gründen der Profitmaximierung unter eine Freie Lizenz gestellt wird, kann ebenso das Label „Freie Software“ beanspruchen wie eine in der Freizeit entwickelte Software. Wie der Tauschwert zum Gebrauchswert, so steht die Verwertung der Freien Software zur Freien Software selbst. In der kapitalistischen Produktionsweise ist die Produktion von Freier Software nur ein Mittel für den Verwertungsprozess, Zweck und Inhalt bleibt weiterhin die Produktion von Mehrwert, nicht das interesselose Wohlgefallen an der Verbreitung nützlicher Software.
Auf eine erstaunliche Kompatibilität bzw. Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus lässt sich im Rahmen der Betrachtung der Koexistenz mit Freier Software schließen. Trotz der Umstrukturierung in Teilen der Softwarewirtschaft, induziert durch die Konkurrenz, die die proprietäre Software und deren Verwertungsformen durch Freie Softwareprodukte erfuhr, scheinen sich neue Verwertungsformen auf der Basis von, in Symbiose mit oder in Koexistenz zu Freier Software etablieren. Wie sehen solche Geschäftsmodelle aus? Dieser Vorgang wurde ausführlich bei Nuss (2006: 84ff.) am Beispiel der Firma CollabNet und der Freien Software Scarab beschrieben und ist keineswegs ein Einzelfall. Zur Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus meint dementsprechend Wolfgang-Fritz Haug: „Doch als dynamische Spezifik der kPw [kapitalistischen Produktionsweise] stellt Marx gerade die permanente innere Veränderung heraus. Um sie zu kennzeichnen, zitiert er in KI (511, Fn. 306) das Manifest: »Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Pw war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen.« (4/465) ›Invariant‹ an der kPw wäre demnach gerade ihre Variabilität“ (Haug 2008: 298).
Die Existenz von nichtwarenförmigen Beziehungen kündigt dementsprechend nicht das Ende
des Kapitalismus an sondern war schon immer Bestandteil des Kapitalismus. Er könnte wahrscheinlich nicht existieren ohne die großen Bereiche, in denen Werte nicht verwertet werden.
Innerhalb der Familie zahlt man nicht für sein Essen (Reproduktionsarbeit), unter Freunden hilft man sich ohne unmittelbare Gegenleistungen, und zahllose Vereine bis hin zur freiwilligen Feuerwehr sind grundsätzlich nicht kommerziell organisiert.

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5. Fazit
Die These der nicht Warenförmigkeit Freier Software und die These der Keimform einer
nichtkapitalistischen Produktionsweise, lässt sich bei näherem Hinschauen nur mit diversen Kunstgriffen aufrecht erhalten. Die mannigfaltigen, von den Vertretern dieser These erkannten Erscheinungsformen der Verwertbarkeit von Freier Software im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise werden von ihnen oft als Ausnahmeerscheinungen abgetan. So werden die meisten (GPL-artigen) Open Source Varianten von vorneherein aus der These ausgeklammert und selbst bei der Freien Software, bei der alle Voraussetzungen wie freie Verfügbarkeit, freie Quellen, freie Änderbarkeit und freie Verteilbarkeit erfüllt sind, müssen sie noch unterscheiden zwischen „einfach freier Software“ (Software, die unter Lohnarbeitsverhältnissen entwickelt wird) und „doppelt freier Software“ (die in der Freizeit und unter Bedingungen freier Selbstentfaltung zustande kommt) um die These aufrecht zu erhalten. Nicht abgestritten aber vernachlässigt wird die Unsitte der Doppellizensierung, also der bemerkenswerten Ausbeutung der unentgeltlichen Arbeit der Open Source Community durch die Privatwirtschaft und deren Verwertungsinteressen.
Das emanzipatorische Potenzial des Ideals der Freien Softwareentwicklung soll hier nicht in Frage gestellt werden sondern kritisch die vielfältigen Wege aufgezeigt werden, wie Freie Software immer besser in die kapitalistische Produktionsweise integriert wird und keine reale Gefahr für das System des Kapitalismus mehr darstellt. Man könnte auch, um im Bild der Keimformthese (Mertez/Merten 2005: 303ff.) zu bleiben, sagen, dass wenn die Keimform theoretisch zwei Richtungen einschlagen kann, so liegt die „Integration in das Alte“ sprich in die kapitalistische Produktionsweise immer näher und unterstreicht die These von Marx, dass für den Kapitalismus „sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren“ geradezu eine Existenzbedingung ist (MEW 4: 465). Dass es noch möglich ist, den Weg aus der Restauration des Alten herauszugehen, soll dabei jedoch nicht ausgeschlossen werden.
Offene, noch nicht entschiedene Kämpfe können uns noch überraschen, auch wenn eines ganz
sicher stimmt: Die Integration ins Alte, und damit dessen Auffrischung ist voll im Gange.
Die Grundprinzipien von Freier Software bzw. der Art ihrer Produktion bleiben trotzdem eine Grundbedingung für eine moderne, nicht-kapitalistische Produktionsweise. Sie sind also notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung.
Nur im Sinne von Meretz/Merten „doppelt freie“ Software5, welche somit auch nicht dual-li-/wiki/Red_Hat_Enterprise_Linux).
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zenziert ist, hätte das Potential zur Entfaltung eines neuen Produktionsmodells. Das Copyleft- Prinzip, bietet hierfür ebenfalls einen so wichtigen Faktor, dass Einschränkungen der Nutzung auf einen Bereich ausschließlich emanzipatorischer Anwendungen nicht mehr nötig werden. Das Problem wäre dann letztlich nicht das Konzept an sich sondern dessen viele Schlupflöcher und die ungelösten Fragen. Z.B. die Frage der Koordination, d.h. die Maintainer-Frage. Wie schaut diese Koordination aus? Wie emanzipatorisch ist diese gedacht? Braucht es noch zum Beispiel einen Abstimmungsmodus für ein ganzes Projekt?6 Oder ergibt sich dies alles aus den Einzelentscheidungen auf Graswurzelebene? Auf dieser Ebene klaffen große Lücken.
Weder Marx noch bestimmte Verfechter der Peer-Ökonomie wie Siefkes werfen auf befriedigende Weise „die Frage der politischen Macht“ (Andreani 1986: 683) auf. Dementsprechend stellt sich die Frage der politischen Ausgestaltung im Sinne einer emanzipierten Gesellschaft, nicht nur die ihrer ökonomischen Prinzipien oder ihrer bürgerlichen Rechtsform innerhalb der noch herrschenden kapitalistischen Produktionsweise.

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Literaturverzeichnis
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Bd. 4, S. 678-684, Argument
Diedrich, Oliver 2008: Open Source ist kein Business-Modell
http://www.heise.de/open/Open-Source-ist-kein-Business-Modell--/artikel/117309O
FSF 1991: http://www.gnu.de/documents/gpl-2.0.de.html
Grassmuck, Volker 2004: Freie Software - zwischen Privat- und Gemeineigentum. Bundeszentrale
für politische Bildung: Bonn.
Haug, Wolfgang Fritz 2008: Kapitalistische Produktionsweise. in: Historisch-Kritisches Wörterbuch
des Marxismus, Bd. 7/1, S. 292-316, Argument
Heinrich, Michael 2004: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung. Schmetterling:
Stuttgart
Holzkamp, Klaus 1983: Grundlegung der Psychologie, Campus, Frankurt a. M.
Kurz, Robert 1997: Antiökonomie und Antipolitik. Zur Reformulierung der sozialen Emanzipation
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Maier, Axel; Jaeger, Till 2006: Open Source Software. Rechtliche Rahmenbedingungen der
Freien Software. Beck. München
Meretz, Stefan 2000: Linux & Co. Freie Software - Ideen für eine andere Gesellschaft
Meretz, Stefan 2003, in Widerspruch 45: "Freie Software. Über die Potentiale einer neuen
Produktionsweise"
Meretz, Stefan; Merten, Stefan 2005: Freie Software und Freie Gesellschaft, in: Lutterbeck,
B., Gehring, R.A., Bärwolff, M., Open Source Jahrbuch 2005. Zwischen Softwareentwicklung
und Gesellschaftsmodell. Lehmanns Media. Berlin
MEW 19
Marx, Karl 1867-94: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, 3 Bde, in: MEW 23-25
Nuss, Sabine; Heinrich, Michael 2001: Warum Freie Software dem Kapitalismus nicht viel
anhaben kann - aber vielleicht trotzdem etwas mit Kommunismus zu tun hat.
http://erste.oekonux-konferenz.de/dokumentation/texte/nuss.html
Nuss, Sabine 2006: Copyright & Copyriot. Aneignungskonflikte im informationellen Kapitalismus
Siefkes, Christian 2009: Ist Commonismus Kommunismus? Commonsbasierte Peer-Produkti-
26
on und der kommunistische Anspruch. In: Prokla - Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft,
Bd. 39.2009, 2 = 155 (Jun.), S. 249-267. Verl. Westfälisches Dampfboot: Münster.
Stallman, Richard 2007: Warum Open Source das Wesentliche von Freier Software verdeckt,
in: Lutterbeck, B., Gehring, R.A., Bärwolff, M., Open Source Jahrbuch 2007. Zwischen freier
Software und Gesellschaftsmodell. Lehmanns Media: Berlin.

Anmerkungen
1 Mehr als 200 sind bekannt. Siehe http://www.ifross.de/ifross_html/lizenzcenter.html

2 Mehr dazu mit Veranschaulichungen auf http://www.gnome.org/~michael/blog/ooo-commit-stats-2008.html


3 Ein spannendes Beispiel: die Softwareentwicklungsumgebungen Eclipse (hinter der Firmen wie Borland, IBM, Nokia, Motorola, Oracle, SAP, Red Hat, SuSE stehen) und NetBeans (SUN Microsystems und 100 weitere Partner, vgl. http://www.netbeans.org/community/partners/index.html). Aus zwei ehemals traditionell verwerteten proprietären Softwareprodukten sind inzwischen zwei Flaggschiffe der Open Source-Softwareentwicklung
geworden, hinter denen sich zahlreiche potente Unternehmen versammeln. Jeweils eine erhebliche Anzahl von ansonsten scharf konkurrierenden Software-Unternehmen schließen sich zu einer strategischen Allianz zusammen um sich gegenüber der konkurrierenden Entwicklungslinie einer anderen „Community“ von multinationalen Unternehmen durchzusetzen. Eine derartige Formation führt beunruhigend neue Konnotationen in den bisherigen Begriff der „Open Source-Community“ ein.


4 Die Zirkulationszeit von Freier Software beträgt oft beispielsweise quasi 0.

5 Vgl. hierzu Projekte wie Debian (http://de.wikipedia.org/wiki/Debian) im Gegensatz zu kommerziell vertriebenen Projekten wie Red Hat Enterprise Linux (http://de.wikipedia.org

6 Das Debian-Projekt hat sich bspw. hierzu eine Art „Gesellschaftsvertrag“ gegeben:
http://www.debian.org/social_contract