Freitag, März 27, 2009

Uns hilft kein Gott

Im Gespräch: Peter Sloterdijk / Julia Encke
Text: F.A.S. (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung)

23. März 2009 Ein kalter Frühlingstag in Wien. Peter Sloterdijk wohnt gleich neben dem Stephansdom. „Wenn Sie einen Hut dabeihätten“, sagt er, „könnten Sie ihn an meiner Adolf-Loos-Garderobe aufhängen. Gucken Sie mal!“ Auf seinem Schreibtisch liegen die druckfrischen Exemplare seines neuen Buchs „Du musst dein Leben ändern“, dessen Titel er von Rilke /ARCHÄISCHER TORSO APPOLOS, 4.Strophe, letze Zeile/ geliehen hat (Suhrkamp, 714 Seiten, 24,80 Euro). Es ist ein Essay über den Menschen und ein großer Warnruf: Wir können nicht mehr so weitermachen wie bisher.

Herr Sloterdijk, warum müssen wir unser Leben ändern?
Die globale Krise selbst diktiert uns den Wandel. Wir müssen unser Leben entscheidend ändern, weil wir andernfalls an einem ökonomischen und ökologischen Selbstauslöschungsprogramm teilnehmen. Schon in der älteren Geschichte der Menschheit gab es strenge Autoritäten, Götter, Gurus und Lehrmeister, die ihre Gefolgschaften mit enormen Forderungen beunruhigten. Jetzt haben wir es mit einer ungöttlichen Göttin namens Krise zu tun, die von uns verlangt, neue Lebensformen zu entwickeln. Üblicherweise tragen menschliche Gruppen ja ein Projekt der Dauer in sich, einen Willen zum Fortbestand. Das Projekt der Dauerhaftigkeit ist mit dem aktuellen Modus Vivendi aber strikt unverträglich.

Mittwoch, März 25, 2009

Auflage MEW23 KAPITAL Bd. I





2008 wurde 3600 mal der erste Band verkauft / Dietz Verlag, MEW 23

Freitag, März 06, 2009

eure Krise (ver.di)

Am 2. April 2009 treffen sich die Vertreter der zwanzig führenden Industriestaaten und Schwellenländer in London zum so genannten G 20-Gipfel. Sie sind die Vertreter einer Wirtschaftsordnung, die zu maßlosen Renditen, zum Abbau von Arbeitnehmerrechten, Billiglöhnen, Umverteilung der Vermögen von unten nach oben geführt hat und uns damit die größte Finanz- und Wirtschaftskrise beschert hat, die wir je erlebt haben. Jede Milliarde, die jetzt in die Hand genommen wird, muss irgendwo her kommen. Auch dann sollen wir wieder zu Kasse gebeten werden.

Wir wollen nicht die Rechnung zahlen für ihre Maßlosigkeit und Gier, für ihren Sozialabbau und Raubtierkapitalismus. Sie sollen die Bilder unseres Protests im Kopf haben, wenn sie in London zum Gruppenbild posieren.


Deshalb rufen wir auf zur

Demonstration am 28. März 2009
in Frankfurt
Wir zahlen nicht für eure Krise!

Mittwoch, März 04, 2009

Engels über Marx a while ago


Geschrieben Mitte Juni 1877.
Nach: "Volks-Kalender", Braunschweig 1878.
eingefügte Seitenzahlen des Abdrucks in MEW 19

|96| Der Mann, der dem Sozialismus und damit der ganzen Arbeiterbewegung ... zuerst eine wissenschaftliche Grundlage gegeben hat, Karl Marx, wurde geboren zu Trier 1818. Er studierte in Bonn und Berlin zuerst Rechtswissenschaft, warf sich aber bald ausschließlich auf das Studium der Geschichte und Philosophie und war 1842 im Begriff, sich als Dozent der Philosophie zu habilitieren, als die seit dem Tode Friedrich Wilhelms III. entstandene politische Bewegung ihn in eine andere Laufbahn warf. Unter seiner Mitwirkung hatten die Häupter der rheinischen liberalen Bourgeoisie, die Camphausen, Hansemann etc. in Köln die "Rheinische Zeitung" gegründet, und Marx, dessen Kritik der Verhandlungen des rheinischen Provinziallandtags das größte Aufsehen erregt hatte, wurde Herbst 1842 an die Spitze des Blattes berufen. Die "Rheinische Zeitung" erschien natürlich unter der Zensur, aber die Zensur wurde mit ihr nicht fertig.(1) Die "Rheinische Zeitung" brachte fast immer die Artikel durch, auf die es ankam; man warf dem Zensor zuerst geringeres Futter zum Streichen vor, bis er entweder von selbst nachgab oder durch die Drohung: dann erscheint morgen die Zeitung nicht, zum Nachgeben genötigt wurde. Zehn Zeitungen, die denselben Mut hatten wie die "Rheinische", und deren Verleger ein paar Hundert Taler mehr an Satzkosten draufgehen ließen - und die Zensur war schon 1843 in Deutschland unmöglich gemacht. Aber die deutschen Zeitungsbesitzer waren kleinliche, ängstliche Spießbürger, und die "Rheinische Zeitung" führte den Kampf allein. Sie verbrauchte Zensor auf Zensor; endlich wurde sie doppelt zensiert, so daß nach der ersten |97| Zensur der Regierungspräsident sie nochmals und endgültig zu zensieren hatte. Auch das half nichts. Anfangs 1843 erklärte die Regierung, mit dieser Zeitung sei nicht fertig zu werden und unterdrückte sie ohne weiteres.

Marx, der inzwischen die Schwester des späteren Reaktionsministers v. Westphalen geheiratet, siedelte nach Paris über und gab dort mit A. Rüge die "Deutsch-Französischen Jahrbücher" heraus, in denen er die Reihe seiner sozialistischen Schriften mit einer "Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" |Siehe MEW, Band 1, S. 201 - 333 und S. 378 - 391| eröffnete. Ferner mit F. Engels: "Die heilige Familie. Gegen Bruno Bauer und Consorten", eine satirische Kritik einer der letzten Formen, in die sich der damalige deutsche philosophische Idealismus verlaufen hatte.

Das Studium der politischen Ökonomie und der Geschichte der großen Französischen Revolution ließ Marx immer noch Zeit zu gelegentlichen Angriffen auf die preußische Regierung; diese rächte sich, indem sie im Frühjahr 1845 bei dem Ministerium Guizot - Herr Alexander von Humboldt soll den Vermittler gespielt haben - seine Ausweisung aus Frankreich durchsetzte. Marx verlegte seinen Wohnsitz nach Brüssel und veröffentlichte dort in französischer Sprache 1848 einen "Discours sur le libre échange" (Abhandlung über den Freihandel) und 1847: "Misère de la philosophie", eine Kritik der "Philosophie de la misère" (Philosophie des Elends) von Proudhon. Gleichzeitig fand er Gelegenheit, in Brüssel einen deutschen Arbeiterverein zu stiften und trat damit in die praktische Agitation ein. Noch wichtiger wurde diese für ihn, seitdem er und seine politischen Freunde 1847 in den seit längeren Jahren bestehenden geheimen Bund der Kommunisten eingetreten waren. Die ganze Einrichtung wurde nun umgewälzt; die bisher mehr oder weniger konspiratorische Verbindung verwandelte sich in eine einfache, nur notgedrungen geheime Organisation der kommunistischen Propaganda, die erste Organisation der deutschen sozialdemokratischen Partei. Der Bund bestand überall, wo deutsche Arbeitervereine bestanden; fast in allen diesen Vereinen Englands, Belgiens, Frankreichs und der Schweiz und in sehr vielen Vereinen Deutschlands waren die leitenden Mitglieder Bundesangehörige, und der Anteil des Bundes an der entstehenden deutschen Arbeiterbewegung war sehr bedeutend. Dabei aber war unser Bund der erste, der den internationalen Charakter der gesamten Arbeiterbewegung hervorhob und auch praktisch betätigte, Engländer, |98| Belgier, Ungarn, Polen etc. zu Mitgliedern hatte und namentlich in London internationale Arbeiterversammlungen veranstaltete.

Die Umgestaltung des Bundes vollzog sich auf zwei im Jahre 1847 abgehaltenen Kongressen, deren zweiter die Zusammenstellung und Veröffentlichung der Parteigrundsätze in einem von Marx und Engels zu redigierenden Manifest beschloß. So entstand das "Manifest der Kommunistischen Partei", das 1848 kurz vor der Februarrevolution zuerst erschien und seitdem in fast alle europäischen Sprachen übersetzt wurde.

Die "Deutsche-Brüsseler-Zeitung", an der Marx sich beteiligte und worin die vaterländische Polizeiglückseligkeit schonungslos bloßgelegt wurde, hatte die preußische Regierung wiederum veranlaßt, auf Marx' Ausweisung hinzuwirken, jedoch vergebens. Als aber die Februarrevolution auch in Brüssel Volksbewegungen zur Folge hatte und ein Umschwung in Belgien bevorzustehen schien, verhaftete die belgische Regierung Marx ohne Umstände und wies ihn aus. Inzwischen hatte ihn die provisorische Regierung Frankreichs durch Flocon einladen lassen, wieder nach Paris zu kommen, und er folgte diesem Ruf.

In Paris trat er vor allem dem unter den dortigen Deutschen eingerissenen Schwindel entgegen, der in Frankreich die deutschen Arbeiter in bewaffnete Legionen formieren wollte, um damit in Deutschland Revolution und Republik einzuführen. Einerseits mußte Deutschland seine Revolution selbst machen, und andererseits war jede in Frankreich sich bildende fremde Revolutionslegion durch die Lamartines der provisorischen Regierung von vornherein an die zu stürzende Regierung verraten, wie auch in Belgien und Baden geschah.

Nach der Märzrevolution ging Marx nach Köln und gründete dort die "Neue Rheinische Zeitung", die vom 1. Juni 1848 bis zum 19. Mai 1849 bestand - das einzige Blatt, das innerhalb der damaligen demokratischen Bewegung den Standpunkt des Proletariats vertrat, und zwar schon durch seine rückhaltlose Parteinahme für die Pariser Juni-Insurgenten von 1848, die dem Blatt fast seine sämtlichen Aktionäre abtrünnig machte. Vergebens wies die "Kreuz-Zeitung" auf die "Chimborasso-Frechheit" hin, mit der die "N.Rh.Ztg." alles Heilige angreife, vom König und Reichsverweser bis zum Gendarmen, und das in einer preußischen Festung mit damals 8.000 Mann Besatzung; vergebens eiferte das liberale, plötzlich reaktionär gewordene rheinische Philisterium; vergebens suspendierte der Kölner Belagerungszustand im Herbst 1848 das Blatt auf längere Zeit; vergebens |99| denunzierte das Frankfurter Reichsjustizministerium dem Kölner Staatsanwalt Artikel auf Artikel zur gerichtlichen Verfolgung; das Blatt wurde, angesichts der Hauptwache, ruhig weiter redigiert und gedruckt, die Verbreitung und der Ruf der Zeitung wuchs mit der Heftigkeit der Angriffe auf Regierung und Bourgeoisie. Als der preußische Staatsstreich im November 1848 erfolgte, forderte die "N.Rh.Ztg." an der Spitze jeder Nummer das Volk auf, die Steuern zu verweigern und der Gewalt mit Gewalt zu begegnen. Im Frühling 1849 deswegen sowie wegen eines andern Artikels vor die Geschwornen gestellt, wurde sie beidemal freigesprochen. Endlich, als die Maiaufstände 1849 in Dresden und der Rheinprovinz niedergeschlagen und der preußische Feldzug gegen den badisch-pfälzischen Aufstand durch Konzentration und Mobilmachung bedeutender Truppenmassen eingeleitet wurde, glaubte die Regierung sich stark genug, die "N.Rh.Ztg." mit Gewalt zu unterdrücken. Die letzte - rotgedruckte - Nummer erschien am 19. Mai.

Marx ging wieder nach Paris, wurde aber schon wenige Wochen nach der Demonstration vom 13. Juni 1849 von der französischen Regierung vor die Wahl gestellt, entweder seinen Wohnsitz in die Bretagne zu verlegen oder Frankreich zu verlassen. Er zog letzteres vor und siedelte nach London über, wo er seitdem ununterbrochen gewohnt hat.

...

Nach der Verurteilung der Mitglieder des Kommunistenbundes in Köln zog Marx sich von der politischen Agitation zurück und widmete sich einerseits während zehn Jahren der Durchforschung der reichen Schätze, welche die Bibliothek des Britischen Museums auf dem Gebiete der politischen Ökonomie darbot, andrerseits der Mitarbeiterschaft an der "New-York Tribüne", welche bis zum Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs nicht nur die von ihm gezeichneten Korrespondenzen, sondern auch zahlreiche Leitartikel über europäische und asiatische Verhältnisse aus |100| seiner Feder brachte. Seine auf eingehende Studien der englischen offiziellen Aktenstücke gegründeten Angriffe gegen Lord Palmerston wurden in London als Pamphlets wieder abgedruckt.

Als erste Frucht seiner langjährigen ökonomischen Studien erschien 1859: "Zur Kritik der Politischen Oekonomie", erstes Heft (Berlin, Duncker). Diese Schrift enthält die erste zusammenhängende Darstellung der Marxschen Werttheorie einschließlich der Lehre vom Gelde. Während des italienischen Krieges bekämpfte Marx in der zu London erscheinenden deutschen Zeitung "Das Volk" den damals sich liberal färbenden und den Befreier der unterdrückten Nationalitäten spielenden Bonapartismus, sowie die damalige preußische Politik, die unter dem Deckmantel der Neutralität im trüben zu fischen suchte. Bei dieser Gelegenheit mußte auch Herr Karl Vogt angegriffen werden, der damals im Auftrag des Prinzen Napoleon (Plon-Plon) und im Solde Louis-Napoleons für die Neutralität, ja die Sympathie Deutschlands agitierte. Von Vogt mit den infamsten, wissentlich erlogenen Verleumdungen überhäuft, antwortete Marx im: "Herr Vogt", London 1860, worin Vogt und die übrigen Herren von der imperialistischen falschen Demokratenbande enthüllt und Vogt aus äußeren wie inneren Gründen der Bestechung durch das Dezemberkaisertum überführt wurde. Genau zehn Jahre später kam die Bestätigung: In der in den Tuilerien 1870 gefundenen und von der Septemberregierung veröffentlichten Liste der bonapartistischen Mietlinge fand sich unter dem Buchstaben V: "Vogt - im August 1859 wurden ihm Übermacht ... Fr. 40.000."

Endlich 1867 erschien in Hamburg: "Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie. Erster Band" - das Hauptwerk von Marx, das die Grundlagen seiner ökonomisch-sozialistischen Anschauungen und die Hauptzüge seiner Kritik der bestehenden Gesellschaft, der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Folgen darlegt. Die zweite Auflage dieses epochemachenden Werkes erschien 1872; mit der Ausarbeitung des zweiten Bandes ist der Verfasser beschäftigt.

Inzwischen war in verschiedenen Ländern Europas die Arbeiterbewegung wieder soweit erstarkt, daß Marx daran denken konnte, einen langgehegten Wunsch zur Ausführung zu bringen: die Gründung einer die fortgeschrittensten Länder Europas und Amerikas umfassenden Arbeiter-Assoziation, die den internationalen Charakter der sozialistischen Bewegung sowohl den Arbeitern selbst wie den Bourgeois und den Regierungen so- |101| zusagen leiblich vorführen sollte - dem Proletariat zur Ermutigung und Stärkung, seinen Feinden zum Schrecken. Eine Volksversammlung zugunsten des eben von Rußland wieder erdrückten Polens am 28. September 1864 in St. Martin s Hall in London gab den Anlaß, die Sache vorzubringen, die mit Begeisterung aufgenommen wurde. Die Internationale Arbeiter-Assoziation war gestiftet; ein provisorischer Generalrat mit dem Sitz in London wurde auf der Versammlung gewählt, und die Seele dieses sowie aller folgenden Generalräte bis zum Haager Kongreß war Marx. Von ihm sind fast sämtliche vom Generalrat der Internationale erlassenen Schriftstücke redigiert, von der Inauguraladresse 1864 bis zur Adresse über den Bürgerkrieg in Frankreich 1871. Marx' Tätigkeit in der Internationale schildern, hieße die Geschichte dieser Assoziation selbst schreiben, die übrigens noch im Gedächtnis der europäischen Arbeiter lebt.

Der Fall der Pariser Kommune brachte die Internationale in eine unmögliche Lage. Sie wurde in den Vordergrund der europäischen Geschichte gedrängt, in einem Augenblick, wo ihr die Möglichkeit aller erfolgreichen, praktischen Aktion überall abgeschnitten war. Die Ereignisse, die sie zur siebenten Großmacht erhoben, verboten ihr gleichzeitig, ihre Streitkräfte mobil zu machen und tätig zu verwenden, bei Strafe der unfehlbaren Niederlage und Zurückdämmung der Arbeiterbewegung auf Jahrzehnte. Dazu drängten sich von verschiedenen Seiten Elemente vor, die den so plötzlich gewachsenen Ruf der Assoziation zu Zwecken persönlicher Eitelkeit oder persönlichen Ehrgeizes auszubeuten versuchten, ohne Einsicht in die wirkliche Lage der Internationale oder ohne Rücksicht darauf. Es mußte ein heroischer Entschluß gefaßt werden, und es war wieder Marx, der ihn faßte und auf dem Haager Kongreß durchführte. Die Internationale sagte sich durch einen feierlichen Beschluß von jeder Verantwortlichkeit los für das Treiben der Bakunisten, die den Mittelpunkt jener unverständigen und unsaubern Elemente bildeten; dann, angesichts der Unmöglichkeit, gegenüber der allgemeinen Reaktion auch den an sie gestellten, gesteigerten Forderungen zu entsprechen und ihre volle Wirksamkeit anders aufrechtzuerhalten als durch eine Reihe von Opfern, an denen die Arbeiterbewegung hätte verbluten müssen - angesichts dieser Lage zog sich die Internationale vorläufig von der Bühne zurück, indem sie den Generalrat nach Amerika verlegte. Die Folge hat bewiesen, wie richtig dieser - damals und seitdem oft getadelte - Beschluß war. Einerseits war und blieb allen Versuchen die Spitze abgebrochen, auf den Namen der Internationale hin nutzlose Putsche |102| zu machen, und andrerseits aber bewies der fortdauernde innige Verkehr zwischen den sozialistischen Arbeiterparteien der verschiedenen Länder, daß das durch die Internationale geweckte Bewußtsein der Interessengleichheit und der Solidarität des Proletariats aller Länder sich zur Geltung zu bringen weiß auch ohne das für den Augenblick zur Fessel gewordene Band einer förmlichen internationalen Assoziation.

Nach dem Haager Kongreß fand Marx endlich wieder Ruhe und Muße, seine theoretischen Arbeiten wieder aufzunehmen, und wird er hoffentlich in nicht gar zu langer Zeit den zweiten Band des "Kapitals" dem Druck übergeben können.

Von den vielen wichtigen Entdeckungen, mit denen Marx seinen Namen in die Geschichte der Wissenschaft eingeschrieben hat, können wir hier nur zwei hervorheben.

Die erste ist die durch ihn vollzogene Umwälzung in der gesamten Auffassung der Weltgeschichte. Die ganze bisherige Geschichtsanschauung beruhte auf der Vorstellung, daß die letzten Gründe aller geschichtlichen Veränderungen zu suchen sind in den sich verändernden Ideen der Menschen, und daß von allen geschichtlichen Veränderungen wieder die politischen die wichtigsten, die ganze Geschichte beherrschenden sind. Woher aber den Menschen die Ideen kommen und welches die treibenden Ursachen der politischen Veränderungen sind, danach hatte man nicht gefragt. Nur der neueren Schule der französischen und teilweise auch der englischen Geschichtsschreiber hatte sich die Überzeugung aufgedrängt, wenigstens seit dem Mittelalter sei die treibende Kraft in der europäischen Geschichte der Kampf des sich entwickelnden Bürgertums mit dem Feudaladel um die gesellschaftliche und politische Herrschaft. Marx wies nun nach, daß die ganze bisherige Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, daß es sich in all den vielfachen und verwickelten politischen Kämpfen nur um die gesellschaftliche und politische Herrschaft von Gesellschaftsklassen handelt, um die Behauptung der Herrschaft seitens älterer, um die Erringung der Herrschaft seitens neu emporkommender Klassen. Wodurch aber entstehen und bestehen wieder diese Klassen? Durch die jedesmaligen materiellen, grobsinnlichen Bedingungen, unter denen die Gesellschaft zu einer gegebenen Zeit ihren Lebensunterhalt produziert und austauscht. Die Feudalherrschaft des Mittelalters beruhte auf der selbstgenügsamen, fast alle ihre Bedürfnisse selbst erzeugenden, fast austauschlosen Wirtschaft kleiner Bauerngemeinden, denen der streitbare Adel Schutz nach außen und nationalen oder doch politischen Zusammenhang verlieh; als die Städte und mit ihnen eine gesonderte Handwerksindustrie |103| und ein erst binnenländischer, später internationaler Handelsverkehr aufkamen, entwickelte sich das städtische Bürgertum und eroberte sich, im Kampf mit dem Adel, noch im Mittelalter seine Einfügung als ebenfalls bevorrechteter Stand in die feudale Ordnung. Aber mit der Entdeckung der außereuropäischen Erde von der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts an erhielt dies Bürgertum ein weit umfassenderes Handelsgebiet und damit einen neuen Sporn für seine Industrie; das Handwerk wurde in den wichtigsten Zweigen verdrängt durch die schon fabrikmäßige Manufaktur und diese wieder durch die mit den Erfindungen des vorigen Jahrhunderts, namentlich der Dampfmaschine, möglich gewordene große Industrie, die wieder auf den Handel zurückwirkte, indem sie in zurückgebliebenen Ländern die alte Handarbeit verdrängte und in den weiter entwickelten die gegenwärtigen neuen Verkehrsmittel, Dampfmaschinen, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen schuf. So vereinigte das Bürgertum mehr und mehr die gesellschaftlichen Reichtümer und die gesellschaftliche Macht in seiner Hand, während es noch lange Zeit von der in den Händen des Adels und des auf den Adel gestützten Königtums befindlichen politischen Macht ausgeschlossen blieb. Aber auf gewisser Stufe - in Frankreich seit der großen Revolution - eroberte es auch diese und wurde nun seinerseits herrschende Klasse gegenüber dem Proletariat und den Kleinbauern. Von diesem Gesichtspunkte aus erklären sich alle geschichtlichen Erscheinungen - bei genügender Kenntnis der jedesmaligen ökonomischen Gesellschaftslage, die freilich unsern Geschichtsschreibern von Fach total abgeht - aufs einfachste, und ebenso erklären sich höchst einfach die Vorstellungen und Ideen einer jeden Geschichtsperiode aus den wirtschaftlichen Lebensbedingungen und den, von diesen wieder bedingten, gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen dieser Periode, Die Geschichte war zum ersten Mal auf ihre wirkliche Grundlage gestellt; die handgreifliche, aber bisher total übersehene Tatsache, daß die Menschen vor allem essen, trinken, wohnen und sich kleiden, also arbeiten müssen, ehe sie um die Herrschaft streiten, Politik, Religion, Philosophie usw. treiben können - diese handgreifliche Tatsache kam jetzt endlich zu ihrem geschichtlichen Recht.

Für die sozialistische Anschauung aber war diese neue Auffassung der Geschichte von der höchsten Bedeutung. Sie wies nach, daß alle bisherige Geschichte sich in Klassengegensätzen und Klassenkämpfen bewegt, daß es immer herrschende und beherrschte, ausbeutende und ausgebeutete Klassen gegeben hat und die große Mehrzahl der Menschen stets zu harter Arbeit und wenig Genuß verurteilt war. Warum dies? Einfach deshalb, weil auf allen früheren Entwicklungsstufen der Menschheit die Produktion noch |104| so wenig entwickelt war, daß die geschichtliche Entwicklung nur in dieser gegensätzlichen Form vor sich gehen konnte, daß der geschichtliche Fortschritt im ganzen und großen der Tätigkeit einer kleinen, bevorrechteten Minderheit überwiesen war, während die große Masse dazu verdammt blieb, den kärglichen Lebensunterhalt für sich und dazu noch den immer reichlicher werdenden der Bevorrechteten zu erarbeiten. Aber dieselbe Untersuchung der Geschichte, die auf diese Weise die bisherige, sonst nur aus der Bosheit der Menschen zu erklärende Klassenherrschaft natürlich und vernünftig erklärt, führt auch zu der Einsicht, daß infolge der so kolossal gesteigerten Produktionskräfte der Gegenwart auch der letzte Vorwand einer Scheidung der Menschen in Herrschende und Beherrschte, Ausbeuter und Ausgebeutete wenigstens in den fortgeschrittensten Ländern verschwunden ist; daß das herrschende Großbürgertum seinen geschichtlichen Beruf erfüllt hat, daß es der Leitung der Gesellschaft nicht mehr gewachsen und sogar ein Hindernis der Entwicklung der Produktion geworden ist, wie die Handelskrisen und namentlich der letzte große Krach und die gedrückte Lage der Industrie in allen Ländern beweisen; daß die geschichtliche Leitung übergegangen ist auf das Proletariat, eine Klasse, die sich nach ihrer ganzen Gesellschaftslage nur dadurch befreien kann, daß sie alle Klassenherrschaft, alle Knechtschaft und alle Ausbeutung überhaupt beseitigt; und daß die den Händen der Bourgeoisie entwachsenen gesellschaftlichen Produktivkräfte nur der Besitzergreifung durch das assoziierte Proletariat harren, um einen Zustand herzustellen, der jedem Gesellschaftsmitglied die Teilnahme nicht nur an der Erzeugung, sondern auch an der Verteilung und Verwaltung der gesellschaftlichen Reichtümer ermöglicht und durch planmäßigen Betrieb der gesamten Produktion die gesellschaftlichen Produktivkräfte und deren Erträge derart steigert, daß die Befriedigung aller rationellen Bedürfnisse einem jeden in stets wachsendem Maße gesichert bleibt.

Die zweite wichtige Entdeckung von Marx ist die endliche Aufklärung des Verhältnisses von Kapital und Arbeit, in andern Worten der Nachweis, wie innerhalb der jetzigen Gesellschaft, in der bestehenden kapitalistischen Produktionsweise, die Ausbeutung des Arbeiters durch den Kapitalisten sich vollzieht. Seitdem die politische Ökonomie den Satz aufgestellt hatte, daß die Arbeit die Quelle alles Reichtums und alles Werts sei, war die Frage unvermeidlich geworden: Wie es denn damit vereinbar sei, daß der Lohnarbeiter nicht die ganze, durch seine Arbeit erzeugte Wertsumme erhalte, sondern einen Teil davon an den Kapitalisten abgeben müsse? Sowohl die bürgerlichen Ökonomen wie die Sozialisten mühten sich ab, auf die |105| Frage eine wissenschaftlich stichhaltige Antwort zu geben, aber vergebens, bis endlich Marx mit der Lösung hervortrat. Diese Lösung ist die folgende: Die heutige kapitalistische Produktionsweise hat zur Voraussetzung das Dasein zweier Gesellschaftsklassen; einerseits der Kapitalisten, die sich im Besitz der Produktions- und Lebensmittel befinden, und andrerseits der Proletarier, die, von diesem Besitz ausgeschlossen, nur eine einzige Ware zu verkaufen haben: ihre Arbeitskraft; und die diese ihre Arbeitskraft daher verkaufen müssen, um in den Besitz von Lebensmitteln zu gelangen. Der Wert einer Ware wird aber bestimmt durch die in ihrer Erzeugung, also auch in ihrer Wiedererzeugung verkörperte gesellschaftlich notwendige Arbeitsmenge, der Wert der Arbeitskraft eines durchschnittlichen Menschen während eines Tages, Monates, Jahres also durch die Menge von Arbeit, die in der zur Erhaltung dieser Arbeitskraft während eines Tages, Monates, Jahres notwendigen Menge von Lebensmitteln verkörpert ist. Nehmen wir an, die Lebensmittel des Arbeiters für einen Tag erforderten sechs Arbeitsstunden zu ihrer Erzeugung oder, was dasselbe ist, die in ihnen enthaltene Arbeit repräsentiere eine Arbeitsmenge von sechs Stunden; dann wird der Wert der Arbeitskraft für einen Tag sich ausdrücken in einer Geldsumme, die ebenfalls sechs Arbeitsstunden in sich verkörpert. Nehmen wir ferner an, der Kapitalist, der unsern Arbeiter beschäftigt, zahle ihm dafür diese Summe, also den vollen Wert seiner Arbeitskraft. Wenn nun der Arbeiter sechs Stunden des Tages für den Kapitalisten arbeitet, so hat er diesem seine Auslagen vollständig wieder ersetzt - sechs Stunden Arbeit für sechs Stunden Arbeit. Dabei fiele freilich nichts ab für den Kapitalisten, und dieser faßt deshalb auch die Sache ganz anders auf: Ich habe, sagt er, die Arbeitskraft dieses Arbeiters nicht für sechs Stunden, sondern für einen ganzen Tag gekauft, und demgemäß läßt er den Arbeiter je nach Umständen 8, 10, 12, 14 und mehr Stunden arbeiten, so daß das Produkt der siebenten, achten und folgenden Stunden ein Produkt unbezahlter Arbeit ist und zunächst in die Tasche des Kapitalisten wandert. So erzeugt der Arbeiter im Dienste des Kapitalisten nicht nur den Wert seiner Arbeitskraft wieder, den er bezahlt erhält, sondern er erzeugt auch darüber hinaus einen Mehrwert, der, zunächst vom Kapitalisten angeeignet, im weiteren Verlauf nach bestimmten ökonomischen Gesetzen auf die gesamte Kapitalistenklasse sich verteilt und den Grundstock bildet, aus dem Bodenrente, Profit, Kapitalanhäufung, kurz, alle von den nichtarbeitenden Klassen verzehrte oder aufgehäufte Reichtümer entspringen. Hiermit war aber nachgewiesen, daß die Reichtumserwerbung der heutigen Kapitalisten ebensogut in der Aneignung von fremder, unbezahlter Arbeit besteht, wie die der Sklavenbesitzer oder |106| der die Fronarbeit ausbeutenden Feudalherren, und daß sich alle diese Formen der Ausbeutung nur unterscheiden durch die verschiedene Art und Weise, in der die unbezahlte Arbeit angeeignet wird. Damit war aber auch allen heuchlerischen Redensarten der besitzenden Klassen, als herrsche in der jetzigen Gesellschaftsordnung Recht und Gerechtigkeit, Gleichheit der Rechte und Pflichten und allgemeine Harmonie der Interessen, der letzte Boden unter den Füßen weggezogen, und die heutige bürgerliche Gesellschaft nicht minder als ihre Vorgängerinnen enthüllt als eine großartige Anstalt zur Ausbeutung der ungeheuren Mehrzahl des Volks durch eine geringe und immer kleiner werdende Minderzahl.

Auf diese beiden wichtigen Tatsachen gründet sich der moderne, wissenschaftliche Sozialismus. Im zweiten Band des "Kapitals" werden diese und andere kaum minder wichtige wissenschaftliche Entdeckungen des kapitalistischen Gesellschaftssystems weiterentwickelt und damit auch die im ersten Bande noch nicht berührten Seiten der politischen Ökonomie einer Umwälzung unterworfen. Möge es Marx gestattet sein, ihn bald dem Druck übergeben zu können.

Fußnoten von Friedrich Engels

(1) Der erste Zensor der "Rh.Ztg." war der Polizeirat Dolleschall, derselbe, der einst in der "Kölnischen Zeitung" die Annonce der Übersetzung von Dantes "Goettlicher Comoedie" von Philalethes (dem späteren König Johann von Sachsen) strich, mit dem Bemerken: Mit göttlichen Dingen soll man keine Komödie treiben.

Wieder KAPITAL lesend

http://www.das-kapital-lesen.de/

via Ingo/ KAPITALtutor:

Warum ist es heute wichtig, Marx zu lesen?

Jedem, der an Ideen interessiert ist, ob Universitätsstudent oder nicht, ist offenkundig klar, daß Marx einer der größten philosophischen Köpfe und ökonomischen Analytiker des 19. Jahrhunderts war und es bleiben wird, sowie – in den besten Passagen – der Autor einer leidenschaftlichen Prosa. Es ist außerdem wichtig, Marx zu lesen, weil die Welt, in der wir heute leben, nicht verstanden werden kann ohne den Einfluss, den die Schriften dieses Mannes auf das 20. Jahrhundert hatten. Und schließlich sollte er gelesen werden, weil – wie er selbst schrieb, die Welt nicht verändert werden kann, wenn man sie nicht verstanden hat – und Marx’ Schriften bleiben ein überragender Leitfaden zum Verständnis der Welt und der Probleme, denen wir entgegentreten müssen.

Übersetzung aus dem Englischen: Arnold Schölzel
Marcello Musto (Hg.): Karl Marx’s Grundrisse. Foundations of the Critique of Political Economy 150 Years later. Routledge, London/New York 2008, 320 Seiten, 130 US-Dollar

Erschienen in: junge welt, 22.09.2008