Mittwoch, Februar 07, 2007

Auflösung der Kritik in Religion ?

Sitzung Daniel zur ffm "Kritischen Theorie" vom 1. Februar 2007:
Protokoll* von Lorenz

2.6 Kritische Theorie oder die Auflösung der Kritik in Religion

- Daniel referiert Hennings Text: Bis weit in die 70er Jahre wurden Kritische Theorie und Marxismus weitgehend synonym verstanden. Heute jedoch wollen die Hauptvertreter davon kaum noch etwas wissen. Gründe dafür liegen – nach ihrem Selbstverständnis – im Versagen des Proletariats, in der Perversion des Kommunismus durch Stalin und in der Perversion der Zivilisation überhaupt durch Hitler.
Für Henning sind das keine (befriedigenden) Erklärungen. Er fragt nach theorieimmanenten Gründen.


2.6.1 Horkheimers Lebensphilosophie

- Daniel referiert: Unter Grünberg wurde im Institut für Sozialforschung zunächst empirisch die Geschichte der Arbeiterbewegung dokumentiert. Horkheimer hatte einen anderen Ansatz: Angestrebt wurde eine Theorie der Gesellschaft, entwickelt durch verschiedene Disziplinen unter philosophischer Führung. Die Mehrzahl der neuen Mitarbeiter war philosophisch geprägt; nur Pollock und Grossmann blieben als Fachökonomen. Daniel wirft die Frage auf, ob Fromm nicht – auch unter religiösem Gesichtspunkt – zu hereinzunehmen wäre.
Nach Henning war die Interdisziplinarität eher plakativ. Es habe außer mit Tillich keine Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern der Uni in Frankfurt gegeben. Daniel weist darauf hin, dass zumindest Adolph Löwe mit dem Institut zu tun gehabt habe.
- Daniel referiert weiter: Theorieimmanente Gründe für das Abrücken vom Marxismus liegen für Henning v. a. in der unvermittelten Eintragung marxistischer Kategorien in kulturelle Phänomene. Damit werden sie zu abstrakten Philosophemen, und die Theorie zu einer „Sozialphilosophie“. Es kommt zu einer Reduktion auf Kulturtheorie. Diese hat sich durchgesetzt, nicht die Ergebnisse konkreter interdisziplinärer Arbeit. Als vorbildhaft wird von Henning jedoch die Studie über den autoritären Charakter („The Authoritarian Personality“ [1950]) erwähnt.
- Mike weist darauf hin, dass schon in den 20er Jahren auf die Kleinfamilie verwiesen worden sei, deren autoritärer Zwangscharakter sich objektiviert hat. Dies hat als Hintergrundlektüre für die Entnazifizierung gedient. Uli fragt, inwiefern Adorno von der amerikanischen Sozialforschung beeinflusst worden sei. Die amerikanische Soziologie war damals schon empirisch. Gab es ein unmittelbares Interesse der Amerikaner? Wie lief die Finanzierung? Mike weist darauf hin, dass das erwähnte Werk mit dem Abdriften in Religion jedenfalls nichts zu tun habe.
- Uli weist auf S. 349 und auf den Anspruch von Horkheimer hin, Theorie nicht um ihrer selbst willen zu betreiben – dem er aber selbst nicht gerecht wird. Uli fragt, ob er sich damit nicht in der Linie von Grünberg befinde (der in Wahrheit selbst schon Theorie um ihrer selbst willen gemacht habe). Weiter hinterfragt Uli die Idee einer Forschung mit marxistischer Perspektive. Was ist die marxistische Perspektive, wenn man sich einem Gegenstand nähert?
- Daniel findet, dass Horkheimers Vorstellungen zur Theorie von Henning problematisch wiedergegeben werden. Mike sagt, dass er diese als ein Sich-lossagen von Marx auffasse. Uli betont, dass Henning sich nicht klar ist, dass schon bei Grünberg eine Spur gelegt ist, Theorie um ihrer selbst willen zu betreiben.
- Mike weist darauf hin, dass doch ein Bruch in der Geschichte des Instituts stattfinde. Plötzlich ist der Anspruch da, den Maxismus in Metaüberlegungen einzubetten. Man will philosophisch arbeiten, interdisziplinär. Im übrigen ist "Direktion" kräftig ausgeübt worden, etwa im Umgang mit Benjamin.


2.6.2 Pollocks hermetische Staatskapitalismus-Analyse

- Daniel referiert: Pollock war der Ökonom des Instituts; v.a. aufgrund seiner persönlichen Freundschaft zu Horkheimer.
(Später wird Pollock die "Dialektik der Aufklärung" gewidmet)

Gegen Grossmann vertrat Pollock die Auffassung, dass der Kapitalismus wegen der Anarchie zwischen den verschiedenen Sektoren des Marktes scheitert. Nach Marx gibt es diese Anarchie, aber es stellt sich ein Gleichgewicht ein. Pollock ruft jedoch im Hinblick auf den Nationalsozialismus (NS) eine neue Stufe aus: Der Monopolkapitalismus sei in den Staatskapitalismus überführt worden. In dieser Phase ist die Anarchie des Marktes politisch überwunden. Daraus ergibt sich ein Mangel an Krisen, und in der Folge eine Verstärkung des Pessimismus im Institut. Die Trennung von Fromm 1939 erfolgt auch aufgrund dieses Pessimismus: Fromm ist – auf Güte bestehend – zu hoffnungsvoll.
Von Pollock wurde ein totaler Klassenantagonismus unterstellt, gleichzeitig aber außer Kraft gesetzt, da das Proletariat versagt habe. Daraus ergab sich eine Ethisierung. Als einzige Ethik stand aber die des Liberalismus bereit, der wiederum als Wegbereiter zum Faschismus identifiziert wurde.
Bei Horkheimer gab es eine Vorstellung davon, was Vernunft sei. Vernünftig ist es etwa, den Arbeitsprozess planmäßig zu lenken. In Pollocks Deutung hat gerade der NS diese planmäßige Leitung vollbracht.
- Mike weist auf Lenins Wort vom Kriegskapitalismus hin (1. Weltkrieg). Gewerkschaftsspitzen und SPD haben Mitbestimmung in der Kriegsproduktion bekommen. Die Gewerkschaften erschienen als Transmissionsriemen vom ZK bis zum Produzenten. Die Preise waren garantiert, Auflagen und Produktion gelenkt. Man hatte einen Staatskapitalismus, der funktioniert. Doch ist der Zusammenhang zwischen Krieg und Kriegswirtschaft zu sehen: Der Staat kann unglaublich in Vorschuss gehen, solange er sich die Mittel in den besetzten Ländern zurückholt. Das ist also keine allgemeine Kapitalanalyse.
Henning muss attestiert werden, dass er das epochal Gültige herausarbeitet. Es ist das allgemeine Prinzip der Epoche, in der man lebt, herauszuarbeiten.
- Richard fragt nach der Bedeutung von „hermetisch“. Mike übersetzt mit „in sich abgeschlossen“. Der Gegensatz zu Marx liegt darin, dass hier nicht mehr über das System hinausgegangen wird. Es gibt keine Hoffnung mehr. Die Arbeiter unterstützen Hitler. Wo ist das revolutionäre Subjekt? Richard fragt nach einem Bezug des Wortes zu Geheimwissen (vom Altertum her); Mike weist einen solchen für den vorliegenden Kontext ab.
- Daniel findet diese Aussage Hennings ziemlich gewagt: „Diese Beschreibung des Nationalsozialismus entsprach genau der Vorstellung von ‚Vernunft’, die man einmal selbst vertreten hatte. Zusätzlich zu den persönlichen Katastrophen brachte der Nationalsozialismus das Institut so auch theoretisch in eine missliche Lage. Vielleicht war dies ein Grund, warum ihm so bereitwillig eine Zerstörung ‚der’ Vernunft zugeschrieben wurde: er hatte die eigene Theorie verunmöglicht.“ (S. 353). Uli unterstreicht: dies sei falsch. Was Horkheimer im Kopf hatte, ist nicht durch den NS eingelöst worden. Sein Vernunftideal ist nicht wirklich geworden.
- Mike weist darauf hin, dass die planmäßige Leitung der Produktion freilich bei Marx als Thema vorkomme. Dieser spricht von der "freien Assoziation der unmittelbaren Produzenten". Dieses demokratische Element ist weder im Stalinismus noch im NS drin. Dass der NS „genau diese“ Leitung der Produktion (die Horkheimer nach Henning im Sinn hatte) vollbrachte habe, ist von Henning überspitzt formuliert. Planvoll zu produzieren ist der Aufklärung nahe. Die Institutsmitglieder haben in den 30er Jahren die Marx’schen Frühschriften gelesen, wonach in der Aktion (Verbindung von philosophischer und praktischer Kritik) Antagonismen sich aufheben: Die Vorteile aller steigern sich, wenn alle an ihren Vorteil denken. (MR: wie ...?)
Es gab eine positivere Einstellung zur Vernunft, und die verdüstert sich. Wenn dann die (ökonomische) Theorie nicht fest ist, dann kann eine solche pessimistische Stimmung zur Triebfeder werden. Man sieht eine dunkle Seite in der Aufklärung selber. Es wird „dusterer und dusterer“. Sie hängen dazwischen (zwischen NS und Stalinismus).
- Daniel sagt, dass es in dieser Phase nach Henning nicht mehr um politische Praxis ging. Daniel weist auf S. 358/9 hin, wo Adorno und Horkheimer vorgeworfen wird, dass sie die Probleme allein in der Theorie verorten. Mike erinnert an den Hintergrund: Man hat den Zeitpunkt versäumt, die Proletarier sind übergelaufen. Die Verwirklichung der Philosophie ist passé. Dies „erhält sie am Leben“.
- Daniel weist auf ein Problem auf S. 359 hin: Man soll über die Theorie hinausgehen. Zugleich heißt es aber: „In der Wissenschaft selbst haben politische Wünsche oder normative Ansprüche, hat also eine philosophische ‚Führung’ wenig zu suchen. Gegen Parteiprogramme, die irgendeine ‚positive’ Philosophie vertraten, wehrte Marx sich daher vehement.“ Uli fragt, ob damit doch Theorie um ihrer selbst willen verlangt sei (von Marx her).
- Daniel sagt, dass besonders Horkheimer als kritischer Theoretiker sich bewusst sei, wie er in der Gesellschaft steht. Mike pflichtet bei: Es ist ein reflektierter eigener Standpunkt; man hat sich mitverortet. Aber der Unterschied ist: Bei Marx ist die philosophische Sichtweise in die politische Ökonomie mitgebracht. Es handelt sich also nicht um ein Ende der Philosophie, sondern um Philosophie in neuer Gestalt. Es bleibt aber Philosophie. (In Kontrast zur obigen Redeweise.)
Die Stelle mit dem „Augenblick“ (zit. S. 258) findet Mike religiös (kairos). Verpasster Kairos - Das ist dann eine Negative Theologie. - Daniel weist auf das Dilemma hin, vor dem Adorno/Horkheimer standen: Eigentlich könnte nur ein anderes Denken helfen. Das setzt aber voraus, dass das Tauschprinzip aufgehoben wird. Dies macht jedoch die totale Herrschaft unmöglich. Uli ergänzt: Die Leute, die die Verhältnisse verändern sollten, hängen von diesen lebenspraktisch ab. Mike sagt, wenn man dazu noch den Satz, dass das Sein das Bewusstsein bestimme, bedenke, zeige sich die Problematik deutlich. Sie müssten sich den eigenen Ast absägen. Uli verweist auf den Schluss von "Lohn, Preis, Profit": die Lohnarbeiter müssten das Lohnsystem abschaffen.


2.6.3 Adornos quietistischer Utopismus

- Daniel referiert: Nach der Neugründung 1949 verlässt man die ganz dunkle Seite. Es wird wieder von Vernunft gesprochen, die aber dialektisch sein müsse. Den Satz von Henning, dass die Kritische Theorie keine Theorie gewesen sei (S. 356), nennt Daniel eine starke These. Henning meint, dass es keine Theorie gegeben habe, wie es besser zu machen sei.
- Mike weist auf die Aussagen auf S. 357 hin: Horkheimer habe darunter gelitten, dass die Theorie nur negativ gewesen sei; Adorno habe eine Tugend daraus gemacht.

In diesem Zusammenhang gibt Mike einige Hinweise zur Person Hennings: Dieser wurde 1973 in Salzgitter geboren, hat 1992 Abi gemacht, dann Zivildienst in Dresden. 2003 hat er dort dissertiert, dann Stipendien bekommen. Er ist also fünf Jahre nach 68 erst geboren.

- Uli meint zur Fußnote auf S. 357, dass es schon toll gewesen wäre, wenn Horkheimer hätte sagen können, was falsch ist. Mike erwähnt, dass die Theorie tatsächlich immer abgehobener geworden sei. Sie wandte sich der Religionsphilosophie zu (Horkheimer), Adorno besonders der neuen Musik. Auch Medienschelte wurde betrieben; der Unterschied zwischen Authentizität und Konserve (beim Kunstwerk) betont. Sie hatten Einfluss mit solchen Sachen.
- Daniel weist auf S. 360 hin, wo eine Nähe zur Theologie behauptet wird. Es stellt sich die Frage, weshalb ein religiöser Standpunkt nicht referierbar sein soll. Richard problematisiert die Aussage zur „metaphysischen Verankerung“ von Bloch und Tillich: Ist diese als Erfordernis zu verstehen? Mike sagt, dass die Stelle so missverstanden wäre; zu verstehen ist: statt des Fehlers, metaphysisch zu werden, habe Adorno sich in eine Nähe zur Theologie gerückt.
- Richard fragt, ob es ein Zufall sei, dass dies vor allem in Form von Aphorismen passiert sei. Mike verneint. Der Aphorismus ist die Form nicht-systematischen Denkens. Es ist eine uralte Technik (schon bei den Vorsokratikern). Richard fragt nach, warum der religiöse Standpunkt nicht referierbar sei. Mike sagt, dies sei sicher falsch. Uli wirft ein, dass viele Aphorismen wunderbar seien. Man kann Erhellendes herausholen. Mike erinnert an das Diktum, der Wegweiser müsse den Weg nicht gehen.
- Daniel weist auf eine Aussage auf S. 361 hin: „Auch Horkheimer hat von diesem Spiel mit religiösen Chiffren Gebrauch gemacht.“ Kann man wirklich von einem Spiel mit religiösen Chiffren sprechen? Die Fußnote 77 wird darauf hin problematisiert: Mike erkennt darin lauter Schnippselchen. Uli meint, ein guter Lektor hätte (wie schon verschiedentlich erwähnt) dem Buch nicht geschadet. Der hätte vielleicht auch empfohlen, die Hälfte zu streichen. Grundsätzlich ist es aber erfreulich, dass man mit einer solchen Arbeit über Marx wieder Erfolg haben kann.
- Daniel weist auf Walter Benjamin hin, der am Schluss des Abschnitts erwähnt wird. Mike verweist auf S. 350, wo gesagt wird, dass Benjamin sich als einziger von Grossmann unterrichten ließ. Nur weil Pollock eine Hermetik produziert hat, konnten sich die anderen in ihren Arbeiten bestätigt finden. Benjamin hat’s mit Grossmann gehalten. Daniel hinterfragt den Satz, dass Benjamin die Wende zur Welt mitvollzogen habe (S. 361), besonders im Hinblick auf dessen Freund Scholem. Religiöser geht’s ja fast nicht. Mike pflichtet bei: Scholem hat eine „Re-Religiosierung“ der Philosophie vollzogen. Er ist Schriftgelehrter geworden. Das Quasi-Religiöse bei Adorno stört (Henning) wegen der Kritik von Marx am utopischen Sozialismus.
- Richard weist auf Strömungen im Protestantismus hin, die auch eine Entmythologisierung beabsichtigt haben. Diese erst mache frei, die Welt so zu sehen, wie sie ist (geht bis zu Sölle, Atheistische Theologie). Mike ergänzt, dass teilweise auch Glaube und Religion auseinandergehalten werde. Wenn man Glaube, Religion und Theologie trennt, ergibt sich hohe Komplexität. Zu S. 361 bemerkt er, dass Benjamin von Scholem - als religiöser Denker präsentiert wurde. Im kommenden Ref. von Martina wird es um ein volleres Benjamin Bild gehen.

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