Der erste Teil ist ein sehr schöner Beitrag zur Didaktik derWertformanalyse, ab da wo er den Poulantzas positiv aufnimmt und den Staatunvermittelt als ens sui generis ainführt wird es schwach. Das Ende gehtwieder, gefällt mir sogar sehr gut, vor allem auch im Bezug aufPositionen wie die Gegenstandpunkt - Position.liebe Grüße aus WienFranz
aus: Möller, Peters, Vellay (Hg), Dissidente Praktiken.U.Helmer-Verlag 2006
Inhalt
ZurEinführung..................................................................9
Zur Stiftung.....................................................................23
Living for ChangeGrace Lee Boggs..............................25
Teil I: Landnahmen von unten................................... 39
Gebrauchsrechte in »public domain« – Gemeinheiten in der StadtIrinaVellay............................................................41
Detroit Summer: Wiederaufbau unserer Städte von Grund aufSharonHowell...........................................................63
Temporäre Nutzungen – Stadtgestalt zwischenSelbstorganisation und Steuerung?
Sylvia Kruse, Anja Steglich..........................................73
Zwischen Prekarität und Emanzipation:Topographien urbaner Selbstorganisationin Armutsräumen von Rio de Janeiro und Buenos Aires
Stephan Lanz................................................................93
KraftWerk1 – ein selbstorganisiertes Wohnprojekt:Herausforderungen und Lösungsansätze
Bettina Büsser und Kathrin Lüssi........................... 113
Simplicité volontaire et décroissance – kollektive soziale Praxis?Lena Müller..........................................................................122
»Selbst«-Organisation – es ist gar nicht so einfach!
Anna Kreikemeyer und Hilmar Kunath................ 129
Frauen in Afrika und in Zentralamerika kämpfengegen die globalen Konzerne und für ihre SubsistenzMaria Mies..............................................137
Wasser – Inspiration, Reichtum und Konfliktpotenzial –Basisorganisierung in Uruguay und Kunst, ein Austausch
Cornelia Schlothauer................................................141
Cecosesola – eine Kooperative in Venezuela der besonderen ArtPeter Bach...........................................................................157
Teil II: Positionen....................................................171
Risse nutzen – Verschiebungen leben und erfahren
UllaPeters................................................................173
Ganzheitliche Reproduktion des Lebens –auf der Suche nach alternativen Kriterien
Anneliese Braun......................................................185
Was ist Ökonomie? Genderbewusste Wirtschaftsethik –Vorsorgendes Wirtschaften – Lebensweltökonomie
Ulrike Knobloch......................................................206
Umrisse der konkreten Utopie einer Selbstentfaltungs-Gesellschaft
Annette Schlemm...................................................212
Versorgung selbst organisieren
Elisabeth Voß..........................................................231
Vom Ende der Ware. Theoretische Kritik und emanzipatorische Praxis
Andreas Exner........................................244
Utopieren heißt probieren
FriederikeHabermann........................................270
AutorInnen...........................................................283
Vom
Andreas Exner
Ende der Ware Theoretische Kritik und emanzipatorische Praxis
Sprechen wir in emanzipatorischer Perspektive über »Prozesse sozialer Selbstorganisation«, so denken wir Selbstorganisation als Gegensatz zur heute dominanten Organisationsform sozialer Prozesse, das heißt imGegensatz zur kapitalistischen Produktions- und Lebensweise.1 Diese Behauptung führt zu einer zweifachen Fragestellung. Erstens gilt es zu klären, inwiefern diese Organisationsform Resultat bzw. Ursache von Fremdbestimmung ist, zweitens ist danach zu fragen, unter welchenVoraussetzungen, auf welche Weise und in welcher Richtung sie überwunden werden kann. Gehen wir davon aus, dass sich die Stabilität der Verhältnissegleichermaßen materiellen wie diskursiven Praxen verdankt, und dass letztere unter anderem im wissenschaftlichen Feld – inner- wie außerhalbder Universitäten – situiert sind, dann ist theoretische Kritik als wesentliches Element emanzipatorischen Handelns zu begreifen. Dies umsomehr, als eine Affirmation der Verhältnisse heute bis weit in das »oppositionelle Spektrum« reicht. Aus Platzgründen setze ich im Folgenden daher den Schwerpunkt auf die erste Frage.
Warenproduktion und FremdbestimmungÖkonomische Okkultismen
Der Alltagsverstand versteht ebenso wie die Volks- undBetriebswirtschaftslehre unter Kapital nichts weiter als ein Ding. DiesesDing freilich scheint reichlich mysteriös, betritt es doch inunterschiedlichster Gestalt die Bühne: Kapital, das sei zum einen Geld,zum anderen Infrastruktur, Maschinerie und Boden, ja neuerdings auch diezum human capital geadelte Arbeitskraft – schlicht alles, was Produktionunter kapitalistischen Verhältnissen benötigt.Was nun aber das spezifisch Kapitalistische an diesen Verhältnissendarstellt, bleibt dabei bestenfalls im Ungefähren. Ist ein Werkzeug ausder Steinzeit genauso Kapital wie das Geld eines Investmentfonds? Wasmacht so Unterschiedliches wie Infrastruktur, Maschinerie, Wissen undsoziale Fähigkeiten, zusammen mit Münzen und Banknoten – geprägtem Metallund bedrucktem Papier also – zu einem Etwas namens Kapital?Abstrakt gesprochen meint der Begriff des Kapitals etwas Allgemeines, dassich durch unterschiedliche Formen (Geld, Ware, Arbeitskraft) hindurcherhält und vergrößert. Dieses Allgemeine – und damit sei vorweggenommen,was ich im Folgenden noch ausführe – bestimmt Marx als den Wert; Wert imSinne einer abstrakten, gesellschaftlich gültigen, also objektiven,absoluten Qualität.2Betrachtet man die zeitgenössische ökonomische Theorie, so ist einAnknüpfungspunkt für diese Auffassung schwerlich zu entdecken. Sie hat denWertbegriff zwar nicht in jedem Fall und gänzlich eliminiert, einertieferen Reflexion in aller Regel jedoch entzogen. Indes bezeugt schon diein der Ökonomie alltägliche Redeweise, die nicht auskommt ohne Wertverlustund Wertsteigerung, Anlage und Sicherung des Werts usw. gerade dieallgegenwärtige Präsenz des Werts im ökonomischen Handeln und Denken.So mag es nicht verwundern, dass nicht allein ein gängigermakroökonomischer Begriff wie der des Bruttosozialprodukts, Jahreswert derProduktion eines Landes, auf eine addierbare, abstrakte und objektiveGröße – den Wert – verweist, sondern auch die verbreitete Vorstellungeines »wirtschaftlichen Kreislaufs«, der sich schlechterdings nicht aufeine stofflich - konkrete Menge beziehen kann, vielmehr eineunsinnlich-abstrakte Größe bezeichnen muss.Zweierlei Wert?Der Wert zeigt einen im ersten Moment geradezu okkulten Doppelcharakter.Wert muss einerseits etwas Subjektives sein, rückführbar auf Menschlich-Individuelles – kann es sich bei den abstrakten Zahlenwerten der Ökonomie,ob Bruttosozialprodukt, Euro, Profit oder Zinsen, doch schwerlich umnaturgegebene Dinge oder eine Quantifizierung natürlicher Größen handeln;andererseits erscheint der Wert als etwas Objektives, denn keineswegshängt seine Existenz vom individuellen Willen ab.Sofern die akademische Ökonomie zwischen objektiven und subjektivenWerttheorien schwankt, kommt darin also eine durchaus realeJanusköpfigkeit des Werts zum Ausdruck.3 Während erstere jedoch denobjektiven Charakter des Werts hypostasieren undnaturalistisch-substanzhaft auffassen, verfallen letztere in denumgekehrten Trugschluss, der Wert sei der subjektiven Bestimmungunterworfen und eine rein geistige Erscheinung, Produkt der Vorstellung4. Beiden Zugängen entgeht somit das primäre theoretische Problem, nämlichden Wertbegriff und seinen eigentümlichen Doppelcharakter selbst einmal zu entschlüsseln, das heißt nachzuweisen, wie eine historisch bestimmte gesellschaftliche Praxis ihn bedingt als reale Kategorie, als eine »gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenform( en) für dieProduktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten Produktionsweise, der Warenproduktion« (MEW 23, S. 90). So liefern sie lediglich konkurrierende Erklärungsmodelle für Wertgrößenbzw. die Wertverhältnisse zwischen Waren. Im Fall der objektivenWerttheorien klassischer politischer Ökonomie (namentlich bei DavidRicardo) werden diese auf Arbeitsmengen, die zur Herstellung von Waren notwendigen Arbeitszeiten zurückgeführt (Arbeitswerttheorie), im Fall der subjektiven Werttheorie neoklassisch-marginalistischer Provenienz hingegenmit dem Grenznutzen einer Ware begründet (Nutzentheorie des Werts), demNutzen also, den eine zusätzliche Einheit eines Produkts einer Konsumentin verschafft. Sowohl in der klassischen wie auch der marginalistischen Theorie bleibt unklar, woher die soziale Form namens Wert, das heißt: dieWertgegenständlichkeit, die Eigenschaft von Gegenständen also, Wertdarzustellen, rührt.5 Wert als Form wird in beiden Fällen unhinterfragt vorausgesetzt.
Das Warenuniversum
Um den Wert und seinen Zusammenhang mit den konkreteren ökonomischenKategorien (Geld, Preis, Lohn, Kapital, Profit, Zins, Rente) zuentschlüsseln, wählt Marx im Kapital als Ausgangspunkt der analytischenDarstellung die isolierte Ware, »Elementarform« des Reichtums inGesellschaften, in denen die kapitalistische Produktionsweise herrscht(MEW 23, S. 49).6Der Reichtum, die Produktenwelt dieser Gesellschaftsform tritt uns konkretin der historisch spezifischen Gestalt einer »ungeheuren Warensammlung «(a. a. O.) entgegen. Waren sind nicht bloß konkret-brauchbar, sondernebenso abstrakte, sinnlich nicht erfahrbare Wertgegenstände. Die Ware istdamit ein eigenartig doppelgesichtiges Phänomen, »sinnlich übersinnlichesDing« (a. a. O., S. 85). Als konkrete Gegenstände oder Dienstleistungensind die Waren unvergleichbar. Als Träger von Wert hingegen ist jederqualitative Unterschied zwischen ihnen ausgelöscht und in einenquantitativen verwandelt. In Warenform ist das Produkt eine Einheit vonGegensätzen: konkreter nützlicher Gegenstand (Gebrauchswert) undabstrakter Wert in Einem.Wert erscheint wie eine Natureigenschaft der Waren, wie Farbe, Geruch oderFestigkeit. Marx zeigt in der Wertformanalyse des ersten Kapitels desKapital (MEW 23) nun unter anderem, dass der Wert eine soziale Eigenschaft ist, die den Produkten nur quasi-natürlich anhaftet. Wert nämlicherscheint – im einfachsten Fall – erst im Verhältnis zweier Waren, in derForm des Tauschwerts. Ware A ist Ware B wert – diese Beziehung bildet deneinfachsten denkbaren Wertausdruck, die »einfache Wertform« in derTerminologie von Marx. Eine einzelne Ware hat isoliert betrachtet zwareine Farbe, wert ist sie hingegen nichts, als Wertding ist sie nichtdenkmöglich.Damit unterscheidet sich die Werteigenschaft von allen natürlichen undsozialen Eigenschaften: Ein Auto ist nicht rot, nur weil es neben einemanderen Auto steht – Farbe kommt den Gegenständen unabhängig von jeglichemVerhältnis zu. Ein Untergebener wiederum ist Untergebener bloß imVerhältnis zu seinem Vorgesetzten – ein Einzelner hingegen nicht.»Bei der Wertgegenständlichkeit scheint nun aber eine Eigenschaft, die nurinnerhalb einer Beziehung existiert, eine gegenständliche Eigenschaft derDinge zu sein, die ihnen auch außerhalb dieser Beziehung zukommt« (Heinrich, 2004, S. 52). Marx spricht daher auch von einer »gespenstigenGegenständlichkeit« des Werts (MEW 23, S. 52) sowie vom »Fetischcharakterder Ware« (a. a. O., S. 85). Der Fetischismus ist nicht auf die Warenformbeschränkt, sondern Merkmal aller ökonomischen Formbestimmungen, dieallesamt Ausdruck davon sind, dass gesellschaftliche Verhältnisse derMenschen »die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen « (a.a. O., S. 86) annehmen.Der Warenproduzierenden »eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie«– und das ist zentrales Moment des modernen Fetischismus – »die Form einerBewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, anstatt sie zukontrollieren« (a. a. O., S. 89). Gesellschaftliche SubstanzIm Mittelpunkt einer kritischen Werttheorie steht die Frage, was dieKonstitution der Gesellschaft über Warentausch für die Form dergesellschaftlichen Gesamtarbeit bedeutet; wie sich die Privatarbeiten auf die Produktionszweige verteilen, wie die Privatarbeiten also zu begreifensind als Glieder einer gesellschaftlichen Gesamtarbeit – denn dies drücktsich in der Wertgegenständlichkeit der Produkte aus (vgl. Heinrich, 2001a,S. 208ff.; 2004, S. 42ff.). Zwar stellen die meist von Frauen ausgeübten Tätigkeiten im Bereich des»Häuslichen« die Grundlage aller anderen Arbeiten her, indem sie dieReproduktion der Ware Arbeitskraft sichern. Im Unterschied zum Wertnormaler Waren, in den der Wert der Produktionsmittel ebenso eingeht wieder Neuwert, den die Arbeit zusetzt, ergibt sich der Wert der »besonderenWare Arbeitskraft« allerdings lediglich aus dem Wert der Lebensmittel undeinem »historisch-moralischen Element« (Karl Marx).Reproduktionsarbeit gilt notwendigerweise nicht als wertbildend (vgl. Heinrich, 2001a, S. 260ff.; 2004, S. 92) und daher auch nicht alsgesellschaftliche Arbeit, sondern verschwindet gewissermaßen in einem »Schattenreich «. Sie schafft keinen Mehrwert und ist zwar Voraussetzung,aber nicht Teil des kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisses.Die Wertvergesellschaftung ignoriert damit strukturell einen weitenBereich von Tätigkeiten – laut Zeitbudgetstudie des StatistischenBundesamtes zwei Drittel der gesellschaftlichen Gesamtarbeit (Möller,1998) –, die erst eine Überwindung von Warentausch und Wert aus ihrem»Schattendasein« befreien kann (mitsamt seinen geschlechterspezifischenZuschreibungen; siehe dazu unten).Die praktisch vollzogene Abstraktion von jedweder qualitativen Differenzder Produkte innerhalb des Warentauschs impliziert, dass dieselben nurmehr als Inkorporationen abstrakt gleicher Arbeit, abstrakter Arbeit alsogelten.Abstrakte Arbeit ist nicht eine besondere Art von Arbeit (etwa monotonerFließbandarbeit), sondern Abstraktion von der Ungleichheit der konkretenArbeit (Tischlern, Schreiben, Unterrichten usw.) der privat Produzierendenim Tausch. Konkrete Arbeit produziert Gebrauchswert, abstrakte Arbeithingegen bildet die gesellschaftliche »Substanz« des Werts.Folglich bestimmt die im gesellschaftlichen Durchschnitt notwendigeabstrakte Arbeitszeit, die erst und allein im Tausch »sichtbar« wird – imUnterschied zur konkreten Arbeitszeit konkreter Arbeit, die mit der Uhrmessbar ist – die Wertgröße einer Ware.7Mit der von der Konkurrenz um den Mehrwert getriebenen Entwicklung derProduktivkraft ist damit ein Standard für alle Warenproduzierendengesetzt, den sie auf Gedeih und Verderb halten müssen. Benötigen sie fürdie Herstellung einer Ware länger als dieser Standard vorgibt, gilt diesesMehr an Arbeit nicht als gesellschaftlich und bildet keinen Wert; einTisch von bestimmter Qualität und Proportion etwa ist nicht deshalb mehrwert, weil er in drei Tagen statt in der üblichen halben Stunde produziertwurde.Eine Geldwirtschaft ohne Geld?Die akademische Ökonomie leitet Geld pragmatisch und historisch aus demTausch bzw. der Arbeitsteilung ab (Rakowitz, 2000, S. 121ff.). Geld würdedemnach einen geschichtlich vorgängigen Naturaltausch unter denBedingungen fortgeschrittener Arbeitsteilung lediglich vereinfachen – eineAnsicht, die Marx mit den Worten ironisiert, Geld sei in diesemVerständnis nichts anderes als ein »pfiffig ausgedachtes Auskunftsmittel«(MEW 13, S. 36f.).Die Wertformanalyse hingegen zeigt, dass ein System allgemeinenWarentauschs nur geldvermittelt denkbar ist. Der innere Widerspruch, der»ideelle Doppelcharakter« der isoliert betrachteten Ware, sowohlGebrauchswert als auch Wert zu sein, löst sich begrifflich auf erst mitder materiellen Verdopplung in Ware und Geld. Ware erscheint dann alsGebrauchswert, Geld hingegen als inkarnierter Wert, selbstständiges Daseindes Werts, als allgemeines Äquivalent, auf das sich alle Waren als Werteund damit auch aufeinander beziehen lassen.Geld tritt nicht der Vereinfachung des Warentauschs wegen äußerlich hinzu,sondern ist konstitutiv für den gesellschaftlichen Zusammenhangvereinzelter Warenproduzierender. Folglich ist unabhängig vom Geld wedereine Bestimmung der Wertgröße der Waren noch überhaupt ein allgemeinerWarenaustausch möglich.In welche Widersprüche sich der Versuch verstrickt, Wertgrößen unabhängigvon Geld und Tausch bestimmen zu wollen, zeigt das vom Sozialisten PierreJoseph Proudhon entwickelte Modell einer Stundenzettelökonomie, mit dem erden Kapitalismus zu überwinden glaubte. Dabei sollen die Arbeitszeitenaller privat Produzierenden auf Arbeitsstundenzetteln vermerkt werden, dieeine Tauschbank verwaltet. Mittels der Stundenzettel sollten die jeweilsbenötigten Waren »zu gleichen Werten« eingetauscht werden können.Diese Tauschbank hätte allerdings, wie Marx feststellt, unlösbareAufgaben: sie müsste den Tauschwert aller Waren auf Basis der Arbeitszeitauthentisch fixieren; dazu müsste sie die gesellschaftlichdurchschnittlich notwendige Arbeitszeit für alle Waren bestimmen(andernfalls würden die Langsamsten die wertvollsten Waren produzieren);damit alle Produzierenden auf gleichem Produktivitätsniveau arbeitenkönnten, müsste sie die Arbeitsmittel verteilen; dies wäre auch vonnöten,um die Produktivkraftentwicklung und damit die Wertverhältnisse der Warenkontrollieren zu können; um die Stundenzettel konvertibel zu machen,müsste sie auch die Verteilung der Arbeitszeit auf die verschiedenenProduktionszweige organisieren; damit die Bedürfnisse der Arbeitenden imAustausch befriedigt würden, müsste sie auch diese ermitteln undabgleichen. (vgl. Reichelt, 2001, S. 190f.; Rakowitz, 2000, S. 80ff.).Die Tauschbank entpuppt sich so, ganz im Gegensatz zur Intention von Proudhon, als ein Moloch vom Schlage des realsozialistischen Staatskapitalisten. Würde eine »Tauschbank« hingegen nur die Buchführungder gesellschaftlichen Produktion erledigen, so gäbe es weder einen individuellen Austausch noch eine quantitative »Bewertung« bzw.Wertgegenständlichkeit der Produkte (Rakowitz, a. a. O.).
Der wirkliche Gott
Der Wert, dessen stofflicher Träger die Ware ist, stellt den gesellschaftlichen Zusammenhang als einen Zusammenhang von Dingen her. Ineiner Gesellschaft, die für ihren Bedarf in privater Form produziert, istdie Vermittlung der Beziehungen der Personen durch Sachen notwendigesResultat.Die real existierenden gesellschaftlichen Beziehungen werden nicht bewusstals solche hergestellt, die wechselseitige materielle Abhängigkeit wirdnicht auf direkt-kommunikativem Wege reguliert, der gesellschaftlicheStoffwechsel nicht auf gesellschaftlicher Ebene kontrolliert.Gesellschaftlichkeit erhält eine von ihr unterschiedene, sachliche Gestaltim Geld und wird solcherart in die Produkte projiziert. Insofern diesozialen Beziehungen ein dingliches »Eigenleben« annehmen, gerade so als existierten sie außerhalb der Sozietät, erscheinen sie in der Form von –logisch unmöglichen, in diesem Sinne real-absurden, verkehrten –Ding-Beziehungen.Rückwirkend beherrscht die vergegenständlichte Projektion, als wären dieProdukte von Geisterhand beseelt, das gesellschaftliche Handeln in Gestaltvon Sachzwängen, versachlichten sozialen Zwängen. Die Stichwörter diesesallgegenwärtigen Phänomens sind wohlbekannt: Wirtschaft muss wach- sen;Unternehmen müssen Profit machen; zum Leben braucht man Geld; wer nichtkonkurrenzfähig ist, muss weichen usw. Anders als vor- und nicht-moderneFetischformen (etwa in Gestalt der Religion) entscheiden gesellschaftlicheSachzwänge dieser Art buchstäblich und unmittelbar über Tod und Leben. Wo sich der Sozialzusammenhang über Geld und Ware, also über den Austauschvon Wertgleichem, Äquivalentem herstellt, ist Mehrwert bzw. Mehrgeld(Profit) dominanter Produktionszweck, Geld als Mittel desgesellschaftlichen Stoffwechsels zugleich selbst Zweck der produktivenAktion.»Dass dieser Mittler nun zum wirklichen Gott wird, ist klar, denn derMittler ist die wirkliche Macht über das, womit er mich vermittelt. SeinKultus wird zum Selbstzweck. Die Gegenstände, getrennt von diesem Mittler,haben ihren Wert verloren. Also nur, insofern sie ihn repräsentieren,haben sie Wert, während es ursprünglich schien, dass er nur Wert hätte, soweit er sie repräsentierte. Diese Umkehrung des ursprünglichenVerhältnisses ist notwendig« (MEW 40, 446). Notwendig ist diese Umkehrung,weil Reichtum und Individuum als gesellschaftliche nur gelten in der Formvon Geld und Geldbesitzerin, nicht als konkretes Produkt und Individuum.Geld nun unterscheidet sich von sich selbst allein der Menge nach. Wo GeldProduktionszweck ist, existiert deshalb der Imperativ zur Mehrgeld-, dasheißt Profitproduktion. Aus 100 € kann man 1000 € machen und so fort; mit100 € 100 € zu produzieren, macht hingegen keinen Sinn. Das Profitmotivschließlich ist endlos, denn an sich selbst findet das Geld alsProduktionszweck keine Grenze. Diese »innere Natur« des Kapitals machtsich den einzelnen Kapitalisten gegenüber geltend als äußerer Zwang derKonkurrenz. Damit nun sind wir bei einem ersten Begriff des Kapitalsangelangt: die rast- und maßlose, verselbstständigte, auf sich selbstbezogene Verwertung des Werts. Sofern wir das Kapital aus der Perspektiveder Zirkulationssphäre, des Warentauschs betrachten und vomProduktionsprozess der Waren einmal begrifflich absehen, erscheint es alsein »automatisches Subjekt« (MEW 23, S. 169). Kapital also ist kein Ding, sondern die gesellschaftliche Form der Produktion voneinander scheinbar unabhängig Produzierender. Anders gesagt:Kapital ist die Projektion des gesellschaftlichen Lebens in die Produkteder Gesellschaft.Die Masken der subjektlosen HerrschaftIm Unterschied zu den überwiegend persönlich-konkretenAbhängigkeitsverhältnissen des Feudalismus dominieren in der bürgerlichenGesellschaftsformation Abhängigkeiten versachlichten, unpersönlichen,abstrakten Charakters. »Das sachliche Abhängigkeitsverhältnis ist nichtsals die den scheinbar unabhängigen Individuen selbstständiggegenübertretenden gesellschaftlichen Beziehungen, d. h. ihre ihnen selbstgegenüber verselbstständigten wechselseitigen Produktionsbeziehungen«,weshalb »diese sachlichen Abhängigkeitsverhältnisse im Gegensatz zu denpersönlichen auch so (erscheinen) (...), dass die Individuen nun vonAbstraktionen beherrscht werden, während sie früher voneinander abhingen. Die Abstraktion oder Idee ist aber nichts als der theoretische Ausdruck jener materiellen Verhältnisse, die Herr über sie sind« (MEW 1974, S. 82).8Es handelt sich hierbei nicht um verständige Abstraktionen in der Art vonGattungsbegriffen (Apfel, Birne und Banane sind alle Obst), sondern ummateriell wirksame, durch eine bestimmte soziale Praxis bedingteReal-Abstraktionen (Alfred Sohn-Rethel). Ausbeutung erfolgt als geldvermittelte nunmehr in fetischisierter Form:Der Lohn erscheint als Preis der Arbeit, während er doch Preis der Ware Arbeitskraft ist. Diese verrichtet – neben der zur Deckung ihrer Reproduktionskosten notwendigen – noch unbezahlte Mehrarbeit, die denMehrwert produziert, der sich im Profit darstellt. Der Fetischismus der ökonomischen Formen verschleiert allerdings nicht bloß ein im Grundefeudales Ausbeutungs- und Klassenverhältnis, ist nicht moderner»Oberflächenschleier« eines historischen Kontinuums von Klassenkämpfen.Die Mystifizierung der Ausbeutung ist lediglich ein Aspekt desFetischismus; in dieser Hinsicht ist er für den Kapitalismus nichtspezifisch, denn auch religiös-fetischistische Ordnungen zeigen diesesVerschleierungsmoment.Zentrale Bestimmung des modernen Fetischismus ist vielmehr die allgemeineVerselbstständigung der sozialen Beziehungen auf Basis einer realen,materiell- objektiv und nicht bloß ideell-subjektiv wirksamen Verkehrung.Diese Verkehrung beinhaltet die Verselbstständigung desAusbeutungsprozesses gegenüber den Kapitalisten, die ihn exekutieren.Indem die Produktion sich selbst zum einzigen Zweck gerät, büßt Ausbeutungin kapitalistischer Form das rationale Moment vor-kapitalistischerHerrschaft ein.Im Vergleich mit einem feudalen Herrscher ist das sinnliche Leben einesdurchschnittlichen Kapitalisten oder Managers deshalb geradezu armselig,lassen sie doch nicht primär um ihres Genusses, sondern um der Produktionwillen produzieren.Die Konstitution und das Handeln sozialer Akteure behandelt die Kritik derpolitischen Ökonomie bloß insoweit, als diese »Personifikationökonomischer Kategorien, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen undInteressen« (MEW 23, S. 16) darstellen. »Die ökonomischen Charaktermaskender Personen« sind dabei »nur die Personifikationen der ökonomischenVerhältnisse (...), als deren Träger sie sich gegenübertreten« (a. a. O.,S. 100), schein-persönliche Repräsentation gesellschaftlich gültigerAbstraktionen also. In diesem Sinn ist der einzelne Kapitalist »bewussterTräger« der Wertbewegung, und »nur soweit wachsende Aneignung desabstrakten Reichtums das allein treibende Motiv seiner Operationen,funktioniert er als Kapitalist oder personifiziertes, mit Willen undBewusstsein begabtes Kapital« (a. a. O., S. 167).Der Verkehrung der sozialen in sachliche Beziehungen entspricht diePersonifikation der sachlichen Zwänge.Als mit Willen und Bewusstsein begabtes Kapital organisiert der Kapitalistden Verwertungsprozess, die Auspressung des Mehrwerts, der sich inMehrgeld darstellt als fetischisierte, schein-gegenständliche Formunbezahlter Mehrarbeit. Die in einem doppelten zynisch-realen Sinne»freien Lohnarbeitenden« (vgl. a. a. O., S. 183) – einerseits frei vonMitteln, ihre Subsistenz zu sichern und frei, ihre Arbeitskraft zuverkaufen andererseits – fügen sich unter dem sachlichen Zwang derVerhältnisse zum Selbstverkauf dem Kommando des personifizierten Kapitals,das alles daran setzt, soviel Mehrarbeit wie möglich auszupressen. Dasdirekte Herrschaftsverhältnis in der Produktion ist zwar von derindirekten Herrschaft der Wertform durchaus unterschieden, doch ist eskein persönliches, insoweit der Kapitalist lediglich als Repräsentant desKapitals agiert.Die bürgerlichen Ideale von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeitverletzt dies wohlgemerkt in keiner Weise. Vielmehr ist »der Austausch vonTauschwerten (...) die produktive, reale Basis aller Gleichheit undFreiheit. Als reine Ideen sind sie bloß idealisierte Ausdrücke desselben(...)« (Marx, 1974, S. 156). Denn der Kapitalist bezahlt den Tauschwertder Ware Arbeitskraft wie jeder anderen auch und erhält dafür das Recht,ihren Gebrauchswert, der in der Produktion von Tauschwert besteht, zukonsumieren.Markt und KapitalInsofern die Marxsche Wert- und Kapitaltheorie den Nachweis führt, dassder Formenkomplex Wert-Ware-Geld-Kapital den gesellschaftlichenZusammenhang in einer verselbstständigten, gegen konkreteProduktionszwecke und -inhalte gleichgültigen, und deshalb destruktivenWeise herstellt, entzieht sie Vorstellungen eines »sozialen« oder»ökologischen Kapitalismus « ebenso wie dem Konzept einer »(öko)sozialenMarktwirtschaft« die theoretische Grundlage. Kurz gefasst: Die Übel desKapitalismus abschaffen und den Markt – zumal als bestimmendeBeziehungsform – erhalten zu wollen ist ein unmögliches Projekt.Zwar hat es Märkte auch in vormodernen Gesellschaften gegeben, doch vorrangig an den »Rändern der Gemeinwesen« (Karl Marx), dort also, woMenschen begannen, einander als Fremde zu betrachten. Der verallgemeinerteTausch ist gewissermaßen eine Verallgemeinerung des Einander- Fremd-Seins.Die Vermittlung des gesellschaftlichen Stoffwechsels über den Tauschwiderspricht einer Koordination desselben auf Basis einer bewussten Kollektivität. Denn der Tausch setzt den Menschen als isoliertes Individuum ebenso wie den gesellschaftlichen Reichtum in Form desPrivateigentums voraus. Sofern Menschen kooperieren – in der Familie, in der Fabrik, im Rahmen dertraditionellen Agrargemeinschaft, in den mannigfachen Bereichen des Ehrenamts, der Wissenschaft, aber auch in der Freien Software-Produktion–, existiert wohl ein Wechsel von Stoffen und von Informationen zwischenden Individuen, jedoch es existiert kein Tausch (vgl. Schandl, 1999). Grundsätzlich unterscheiden sich vormoderne Gesellschaften mit Märkten vonder kapitalistischen Marktgesellschaft (Karl Polanyi) dadurch, dasserstere weder einen Arbeitsmarkt noch eine umfassende Konkurrenz, nochauch eine freie Verwendung der Produktionsmittel kennen.9Die bewusste Koordination des gesellschaftlichen Stoff- und Energieflussesjedenfalls kann schwerlich auf vor- und nichtmoderne Marktformen alsAlternative zum modernen Markt zurückgreifen. Denn jene bewerkstelligendie stofflich und geographisch eng begrenzte Vermittlung von isoliertenSubsistenzwirtschaften, die keine wesentlichen direkt-kooperativen Bezügeaufweisen. Als Medium einer gesamtgesellschaftlichen Koordination scheidensie damit aus. Der Wunsch nach einer »Befreiung der Marktwirtschaft vom Kapital« jedoch ist eine breitenwirksame Vorstellung, die nicht erst die Globalisierungskritik aus der Taufe gehoben hat. So will die auf denAnarcholiberalen Silvio Gesell zurückgehende und von Proudhon beeinflusste Freiwirtschaft den Kapitalismus überwinden, indem das Geld vom Zins »befreit« wird auf dem Wege einer »Degradation des Geldes« zur»verderblichen Ware«.10 Ähnlich der Ökofeminismus, sofern er »lokale Märkte in Frauenhand « als emanzipatorische Leitvorstellung propagiert und damit voraussetzt, dass Geld nicht auch als Kapital, sondern bloß als »pfiffig ausgedachtesAuskunftsmittel« funktioniert – es ist kein Zufall, dass sich der freiwirtschaftliche und der ökofeministische Diskurs in dieser Frage überlappen. Die Widersprüche der Stundenzettelökonomie sind auch in Hinblick auf die in diesen Zusammenhängen propagierten Tauschkreis- und Lokalmarktmodelle lehrreich, sofern diese den Tausch zu gleichen, von der Arbeitszeit bestimmten Werten garantieren wollen bzw. voraussetzen. Solche Modelle sind praktisch wenig mehr als Notfallsökonomien auf niedrigem materiellen Niveau oder aber begrenzte Experimente mit enger Perspektive. Denn sobald kooperative Warenproduktion (Fabrik, Betrieb) existieren würde, wäre entweder die Bezahlung der Arbeitskraft vonnöten, also der »Austausch« zwischen Kapital und Arbeit, folglich die Aneignung unbezahlterMehrarbeit, der Zwang zu Mehrgeldproduktion, Konkurrenz usw. gesetzt; oder aber ein despotischer Apparat in der Art der Proudhonschen Tauschbank.11
Das System der Trennungen
Historisch betrachtet finden wir Ware, Geld und Wertbewegung inverallgemeinerter – genauer: sich fortlaufend verallgemeinernder – Formerst ab jener Epoche, die gemeinhin als jene der industriellen Revolutionbezeichnet wird. Dabei handelte es sich im Kern freilich nicht um einetechnische Revolutionierung, sondern eine tiefgreifende soziale Umwälzung.Kapitalistische Produktion gründet sich historisch auf der Auslöschung vonSubsistenzproduktion, der Herauslösung der Individuen aus traditionellenSozialbeziehungen, ihre – geschlechterspezifisch segmentierte –Integration in das System von Kauf und Verkauf, die Kommodifizierung dermenschlichen Lebenszeit in Form der Arbeit.Die Durchsetzung des Kapitals als bestimmendes gesellschaftlichesVerhältnis ist ein umfassender Prozess der Trennung. Dieser Prozess istdreifach dimensioniert. Es handelt sich: erstens um die Trennung derIndividuen voneinander – da sie sich nun nicht mehr direkt, sondern überden Umweg von Kauf und Verkauf, als »Hüterinnen ihrer Waren undGeldbeträge «, aufeinander also erst vermittelst des Bezugs auf einaußerhalb ihrer existierendes Drittes beziehen; zweitens die(real-paradoxe) Trennung von sich selbst – da sie sich zu sich selbst wiezu außerhalb ihrer selbst befindlichen Objekten verhalten, wenn sie Teileihrer Lebenszeit und -energie auf dem Arbeitsmarkt verkaufen und folglichden Lebenszusammenhang in Arbeit und Freizeit, in Öffentlichkeit undPrivatheit separieren; drittens die Trennung von ihren Lebens- undProduktionsmitteln – da sie erstere gegen Geld erwerben und sich demKommando der Besitzer zweiterer unterwerfen müssen, um zu Geldeinkommen zugelangen.Verallgemeinerte Trennung der Individuen und Privatisierung der Produktionfür einen gesellschaftlichen Bedarf begründen zugleich einen neuensozialen Zusammenhang, der sich über das Geld, die dingliche odersymbolische Darstellungsform des Werts, herstellt. Genau diesewidersprüchliche Einheit von Trennung und Vermittlung charakterisiert diebürgerlich- kapitalistischen Beziehungen: Vermittlung desgesellschaftlichen Stoffwechsels in einer fetischistischen Form, über eineObjektivation, oder, noch einmal anders gesagt: über einevergegenständlichte Projektion. Die Gesellschaft atomisiert sich zum einenund zum anderen vereinen sich die atomisierten Individuen über die Weltder Waren und des Geldes.Warenproduzierendes PatriarchatDie Kritik der politischen Ökonomie ist weder Gesellschaftstheorie nochgeschichtliche Untersuchung. Allerdings findet eine Perspektive, die dasGesamt der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Blick bekommen und inBeziehung setzen will, an ihr die notwendigen begrifflichenAusgangspunkte. Dies deshalb, weil »die Ökonomie« als Kern derbürgerlichen Verhältnisse erscheint, insofern der Wert eineabstrakt-allgemeine Vermittlung der Individuen konstituiert. Dass dieSphäre der Wertverwertung bloß abhängiges Teilmoment dieser Verhältnisseist, zeigt sich allerdings bereits an der Kategorie des Werts selbst. Denn»der Grundwiderspruch der Wertvergesellschaftung von Stoff (Inhalt, Natur)und Form (abstrakter Wert) ist geschlecherspezifisch bestimmt« (Scholz,1992, S. 23).Was in der abstrakten Form des Werts an Konkret-Sinnlichem nicht aufgehtwird demnach abgespalten und als weiblich halluziniert. HäuslicheTätigkeiten, »Liebe«, Sinnlichkeit, »Emotionalität« und Pflege als unver-zichtbare Grundlagen sowohl der Reproduktion des Kapitals als auch derSubjekte fallen damit in einen Privatbereich, der den Frauen zugewiesenwird und der als »weiblich« gilt. Die Wert-Abspaltung (Scholz, 1992; 2000)erweist sich als ein übergreifendes gesellschaftliches Verhältnis,innerhalb dessen die Form der Wertvergesellschaftung verwiesen bleibt aufden von ihr selbst konstituierten »Schatten«, auf ihr »eigenes Anderes«,das sie zugleich diskriminiert.»Frau« und »Mann« sind in dieser Hinsicht »sexuelle Charaktermasken «(Robert Kurz), Bündelungen kollektiver Zuschreibungen von bestimmtenQualitäten (Gender) an binär gefasste biologische Geschlechter (Sex).Gender ist in diesem Sinn eine weitere Fetischform, in dergesellschaftliche Verhältnisse in eine scheinbare Natureigenschaft derPersonen verkehrt sind. Allerdings erlaubt die patriarchaleHeterosexualität prinzipiell ein flexibles Changieren und dieNeukomposition von Rollenfragmenten und Gender-Attributen – ein Phänomen,das die postmoderne Verfasstheit des Geschlechterverhältnisseskennzeichnet, ohne allerdings der fortdauernden Benachteiligung vonbiologischen Frauen zu widersprechen (vgl. Scholz, 2000).Mit der Auflösung der starren Rollenbilder des Fordismus und derrechtlichen Gleichstellung der Frauen bildet sich vor allem in denkapitalistischen Zentren tendenziell ein »Ein-Geschlecht-Modell« heraus(vgl. Scholz, 2005 u. a.; vgl. Kurz, 2003b). Männer müssen nun »weiblicheQualitäten« (emotionale, kommunikative, »kultur-kreative« undTeam-Fähigkeiten sowie Flexibilität) entwickeln, während Frauen beruflichaufschließen, sofern sie sich strukturell »männliche«, konkurrenzistischeFähigkeiten aneignen und mit »weiblichen Qualitäten« nun ökonomischpunkten können. Für die Mehrzahl der Frauen, die weiterhin für reproduktive Tätigkeiten zuständig gemacht werden und die »weibliche Sorgearbeit« nicht an weibliche Hausarbeitskräfte (meist Migrantinnen) auslagern können, ist dieser Spagat freilich kaum zu leisten. Darüber hinaus bedeutet das »Ein-Geschlecht-Modell« eine Verschärfung sozio-psychischer Krisenphänomene. Der von der Konkurrenz geschützte »häusliche Bereich« der »weiblichen Sorgearbeit«, in dem eine »Logik der Zeitverausgabung« (Frigga Haug) gilt, erodiert. Im Gegenzug nimmt die ökonomische Zeitsparlogik »weiblicheQualitäten« in Beschlag, die sie betriebswirtschaftlich formiert (dazudienen u. a. »Gefühlsmanagement«, »Persönlichkeitsentwicklung « usw.) und(ver)nutzt. Damit steigen die psychischen Belastungen der »individualisierten Individuen«, es verschlechtern sich die Sozialisationsbedingungen der Kinder und zugleich erodieren die (repressiven) Grundlagen von tragfähigen erotischen Beziehungen unter bürgerlich kapitalistischen Verhältnissen.
Der Widerspruch zwischen Integration und Trennung - Krise
Im historisch spezifischen Widerspruch einer arbeitsteiligenPrivatproduktion, zwischen umfassender Integration der Individuen über dieWertform also und ihrer gleichzeitigen Trennung als Warensubjekte liegtdie Notwendigkeit von Störungen und Brüchen in der Reproduktion dersozialen Beziehungen begründet.12 Aus der gegenläufigenVerselbstständigung von Momenten der erweiterten Reproduktion des Kapitals(seiner Akkumulation) resultieren ökonomische Krisen. Kauf und Verkauf,Produktion und Konsumtion bilden zusammengehörige Momente der Reproduktiondes Kapitals und damit der Herstellung von Gesellschaft unter seinerHerrschaft.Aufgrund der Eigendynamik und Verselbstständigung dieser Momente kommt esimmer wieder zu Ungleichgewichten, zu Unterbrechungen und Störungen derReproduktion des Kapitals, also der Produktion von Profit.13 Die Kriseselbst bereinigt diese Ungleichgewichte auf gewaltsame Weise, indemKapital vernichtet wird. Allgemein gesagt: sie stellt den innerenZusammenhang des äußerlich Selbstständigen immer wieder aufs Neue her.Das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse (Akkumulationsdynamik, Natur-und Geschlechterverhältnisse, politische, institutionelle undsymbolisch-kulturelle Formen usw.) ist ebenso wenig bewusst koordiniertwie die Reproduktion des Kapitals. Gegenläufige Entwicklungen diesermiteinander verbundenen, jedoch gegeneinander verselbstständigtenVerhältnisse bedingen daher gesellschaftliche Krisen. Im Unterschied zu»bloß« ökonomischen, »kleinen« Krisen folgt einer »großen«,gesellschaftlichen Krise nicht notwendigerweise Stabilität (vgl. Lipietzin: Becker, 2002, S. 92). Eine stabile Regulationsweise, die erfolgreicheProzessierung der Widersprüche und eine Kohärenz gesellschaftlicherVerhältnisse ist vielmehr historische Fundsache (Alain Lipietz). Sie kannsich etablieren – oder auch nicht.Die Unselbstständigkeit von Kapital und StaatFreilich existiert das Kapital nicht aus sich selbst heraus und für sichallein, sondern ist auf eine Reihe gesellschaftlicher »Rahmenbedingungen«angewiesen. 14 Kapitalistische Produktion benötigt erstens den Staat zurHerstellung bzw. Sicherung der nicht-profitablen Produktionsgrundlagen,also der geschlechtsspezfischen Funktionsteilung,15 von Teilen derInfrastruktur u. a. Darüber hinaus kanalisiert oder unterdrückt der Staatsozialen Widerstand und ist Akteur wie Terrain zur Sicherung deskapitalkonformen Ausgleichs sozialer Kräfte. Das Kapital ist zweitens aufzivilgesellschaftliche Institutionen (Medienunternehmen, reformistischeGewerkschaften, Unternehmerverbände usw.) zur Sicherung seiner Hegemonieangewiesen. Drittens benötigt es die systemkonforme Eigenleistung derIndividuen.Wir müssen Kapitalismus in einer bestimmten Weise wollen, damit erexistieren kann. Und wir »wollen« gewissermaßen zwangsläufig: Ohne Arbeitkein Geld und ohne Geld kein Einkauf. Diese Eigenleistung äußert sichneben der praktischen Anerkennung kapitalistischer Spielregeln auch inideologischen Formen, der mehr oder minder bewussten ideellen Affirmationder Verhältnisse.Ebenso wie das Kapital ist auch der Staat als eine Fetischform zubegreifen, ein dinglich erscheinender Reflex von sozialen Beziehungen, diein einer historisch spezifischen Weise widersprüchlich sind. Ähnlich wieim Fall des Werts changiert die bürgerliche Theoriebildung zwischensubjektivistischen und objektivistischen Staatstheorien. Während erstereden Staat als ein Produkt gesellschaftlicher Übereinkunft denken,missverstehen zweitere ihn als ein Objekt. Diese Position will Staat alsein der Gesellschaft äußerliches Steuerungszentrum verstehen und siehtdarin ein neutrales Instrument, das einem beliebigen Interesse dienstbargemacht werden kann (Poulantzas, 2002, S. 157ff.).16Tatsächlich ist der kapitalistische Staat – und nur unter kapitalistischenVerhältnissen existiert Staat im engen Sinn als ein von Gesellschaftunterschiedener Herrschaftsapparat – »als ein Verhältnis, genauer als diematerielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen undKlassenfraktionen« zu fassen (Poulantzas, 2002, S. 159; kursiv A. E.).Dies bedeutet, dass der Staat kein »monolithischer Block«, sondern voninneren Widersprüchen durchzogen ist (a. a. O., S. 163), staatlichePolitik somit »als Resultante der in die Struktur des Staates (...) selbsteingeschriebenen Klassenwidersprüche« verstanden werden muss (a. a. O.).17Er ist sowohl strategisches Feld als auch »ein Ort und Zentrum derMachtausübung, besitzt selbst jedoch keine eigene Macht« (a. a. O., S.179), denn diese kann nur aus gesellschaftlichen Verhältnissen resultierenund nicht aus ihren Objektivationen.Die Fetischform Staat ist Resultat einer zur Wertform analogen Verkehrunggesellschaftlicher in sachliche, schein-objektive Verhältnisse: »Die Machtdes Staates stammt also aus der Gesellschaft (...), während es geradeInbegriff der Staatsform ist, diese Macht zu verkehren und derGesellschaft als eine ihr fremde Macht entgegenzustellen« (Görg, 2003, S.162). Wie die Geldform den allgemeinen, abstrakten Reichtum in besondererGestalt dar- und der Warenwelt gegenüberstellt, so existiert im Staat dasgesellschaftlich Allgemeine als ein von der Gesellschaft Abgesondertes.Die bürgerliche Gesellschaft nämlich ist aufgrund ihrer Spaltung nachKonkurrenz und Klasse nicht zur Bestimmung eines konkretengesellschaftlichen Allgemeinen fähig (vgl. a. a. O., S. 160).Deutlich wird der historische Charakter der Staatsform im Vergleich mitfeudalen Verhältnissen. Dort existiert eine Trennung von politischer undökonomischer Sphäre nicht, denn die Aneignung des Arbeitsprodukts erfolgtdurch persönliche Herrschaft und in stofflicher Form, womit sichpolitischer Zwang nicht von ökonomischer Herrschaft unterscheidet.Staat bzw. Politik und Wert bzw. Ökonomie bilden die beiden Grundformenbürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung. Sie stehen in einemwidersprüchlichen Verhältnis, und zwar insofern, als der Staat dazutendiert, die Bewegung des Kapitals einzuschränken, andererseits abergerade von der fiskalischen Abschöpfung des Mehrwerts abhängig bleibt. Füremanzipative Praxis bedeutet dies: dass der Staat immanenter Bestandteilder kapitalistischen Produktionsweise und als solcher zwar Adressatemanzipativer Kämpfe ist, jedoch nicht Akteur einer Überwindung dieserProduktionsweise sein kann. Überwindung des Kapitalismus ist nur zugleichmit der Überwindung der Staatsform denkbar.Die Krise des FordismusSofern die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft temporär stabilbleibt, wirkt eine Vielzahl an Bedingungen kohärent zusammen. DieserBedingungszusammenhang ist hochgradig prekär, wie gerade auch diegegenwärtigen Entwicklungen illustrieren. Sind doch die letzten dreißigJahre von der krisenhaften Auflösung des fordistischen Kapitalismusgeprägt, für den ein relativ stabiles Regime der produktiven Akkumulationund eine Regulationsweise der gesellschaftlichen Widersprüche durchReallohnsteigerungen, Binnenmarktwachstum, den Ausbau vonSozialstaatlichkeit und korporatistischer Strukturen charakteristisch war(vgl. Hirsch, 2002, S. 84ff.).Dieser Krisenprozess begann Anfang der 1970er Jahre. Nachlassende und sichverteuernde Produktivitätszuwächse, daraus resultierende Arbeitslosigkeit,Überkapazitäten in der Produktion, Ölpreissteigerungen und der Einbruchder US-Hegemonie aufgrund sich vertiefender Widersprüche zwischen dennationalen Akkumulationsregimen bildeten »objektive Krisentendenzen«.Damit stand teilweise auch eine breite soziale Rebellion (1968er-Bewegung,Neue Soziale Bewegungen, Arbeitskämpfe) in Verbindung. Sie konstituiertedie kollektive Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Krise wesentlich mit,beschleunigte auf diese Weise den Auflösungsprozess der altenRegulationsweise und beeinflusste ihn selektiv mit ihren Themen(Feminismus, Ökologie, Autonomie, Kreativität).Dieser Krisenprozess vertieft sich noch mit dem Rationalisierungsschub derMikroelektronik ab den 1980er Jahren und dem anhaltenden Anstieg derKapitalintensität, der warenproduktive Investitionen fortlaufendverteuert. Der Erhalt von Konkurrenzfähigkeit wird massiv erschwert,während zugleich ein Aufholen der Verlierer immer schwieriger wird.Perspektiven der Emanzipation - Grenzen und MöglichkeitenDie fordistische Regulationsweise war repressiv und rigide. Sie zeichnetesich allerdings durch eine relative Stabilität und hohe Akkumulationsratenaus und konnte so eine innerkapitalistische Perspektive vonfortschreitender Integration in Warengesellschaft und Rechtsbeziehungbieten. Im Zuge des postfordistischen Krisenprozesses lösen sich dieseGrundlagen einer »relativen Emanzipation« auf. Ein stabilesAkkumulationsregime ist nicht in Sicht, das Kapital weicht auf dieglobalisierten Finanzmärkte aus, die Akkumulation fiktiven Kapitals18erzeugt neue Krisenpotenziale in globaler Dimension. Mit dem Rückgang derproduktiven Akkumulation und der Transnationalisierung des Kapitalsverliert der Staat seine finanziellen und ideologischen Möglichkeiten zurBefriedung sozialer Konflikte ebenso wie die fordistischen Spielräume zurRegulierung von Produktion und Verteilung.Das gilt insbesondere für die Regionen einer gescheiterten »nachholendenModernisierung«, die schon frühzeitig auf dem Weg der Durchkapitalisierungder Gesellschaft stecken geblieben sind und der Staat zerfällt hierregelrecht mangels Einnahmen in mafoöses Strukturen. Der Tendenz nach istdies auch im globalen Nordwesten zu beobachten, wenn auch noch auf höherem»zivilisatorischen Niveau«.Insoweit es den Einzelnen immer schwerer fällt, sich in der Form der Warezu reproduzieren und materielle Gratifikationen Stück für Stückzurückgenommen werden, steigt auch das Systemrisiko sozialerWiderständigkeiten. Um die Warenform zu sichern, verstärkt der Staat dieRepression durch direkte Gewalt und Ausgrenzung. Diese Tendenz zurEntformung der bürgerlich-patriarchalen Verhältnisse ist zuerst einmaleine unmittelbare Bedrohung der gesellschaftlichen Reproduktion, die sichdarin vollzieht.Denn die Krise ist unter kapitalistischen Vorzeichen selbst noch eineFetischform; sie erscheint prima vista als katastrophisch-selbstläufigerNaturprozess und nicht als Resultat historisch spezifischergesellschaftlicher Verhältnisse. Das Bedrohungspotenzial dieserEntformungsprozesse ist daher keineswegs gering (vgl. z. B. Kurz, 2003a).Dies zeigt sich auf mehreren Ebenen.Erstens neigen die Warensubjekte in der Krise dazu, konkurrenzistischesVerhalten fortzusetzen. Wo die Konkurrenz um Arbeitsplätze und Profit inden so genannten zivilisierten Formen von Recht und Verkauf nicht mehrmöglich ist, mündet Krise deshalb der Tendenz nach in eine – an denglobalisierten Kapitalismus strukturell gebundenen – »Ökonomie der Gewalt«auf niedrigem materiellem Niveau (Münkler, 2003). Eine besondere Rollespielen dabei die trocken gelegten Staatsapparate und gescheitertennationalen Befreiungsbewegungen der (Semi-)Peripherie, die sich nun mitWaffengewalt ökonomisch über Wasser halten.Zweitens modifizieren sich die Fetischverhältnisse und beeinflussen soauch den Verlauf des Krisenprozesses. Sie dienen der sozio-psychischenVerarbeitung der Krisenerfahrung und stabilisieren bzw. strukturierendiverse Elendsvarianten der materiellen Reproduktion: das Patriarchaterfährt eine Neuformierung, wenn die patriarchale Kleinfamilieverschwindet, die männliche Arbeits- und Geldidentität an der ökonomischenRealität zerbricht und sich die soziale Verantwortung damit vollends»feminisiert«; die Globalisierungsverlierer flüchten massenhaft in diehochaggressive Gemeinschaft einer fundamentalistisch »modernisierten«Religion; Rassismus und Antisemitismus erfahren weltweit eine Konjunktur.Drittens sichert die Weltmacht USA infolge ihres Hegemonieverlusts dieVormachtposition, den Rohstoffzufluss usw. vermehrt mit militärischerGewalt. In diesem Lichte erscheint die Feststellung, es hätte sich einlängerfristig stabiler Kapitalismus »im idealen Durchschnitt« etabliertebenso problematisch wie die Behauptung, wir stünden kurz vor dem»Zusammenbruch« der kapitalistischen Produktionsweise.Mit der Totalisierung von Warenform und Verwertung, die bloß dem Scheinnach universell und selbstgenügsam sind, tatsächlich aber auf ökologischenund sozialen Grundlagen ruhen, die sie selbst herzustellen nicht in derLage sind, ist zwar zugleich auch deren Selbstdestruktion gesetzt. Diesführt jedoch ebenso wenig in das unstrukturierte Chaos einer»verwildernden« Herrschaft wie es »dem Begriff des Kapitalismus«entspricht, wenn sich die Konkurrenz aus ihrem formellen Rahmen zurdirekten Gewalt entbettet oder wenn staatliche Apparate zu marodierendenBanden mutieren. Noch viel weniger aber bedeutet es einen »automatischenSprung in die Emanzipation«.Vielmehr zeichnen sich die Konturen einer möglicherweise lang andauernden»Agonie der Warengesellschaft« (Jappe, 2005, S. 242) ab; und es istschwerlich auszuschließen, dass sich historisch neue repressive sozialeFormen etablieren.Die asynchrone Dynamik einer Vielzahl miteinander verbundener und sichwechselseitig abstützender Fetischverhältnisse bedeutet allerdings auch,dass sich Herrschaft prekarisiert.19 Sie schafft damit die objektivenVoraussetzungen einer Emanzipation, die weiter geht als in den relativformstabilen Phasen des Kapitalismus. »Niemals in der Geschichte« istdeshalb »der bewusste Wille der Menschen so wichtig gewesen« (a. a. O.)wie im Zerfallsprozess der gesellschaftlichen Objektivationen. Hier findetkritische Theorie als Destruktion der gesellschaftlichen Objektivitationenihre Grenze, dort nämlich, wo kollektives Handeln sich von eben diesenSchein-Objektivitäten zu befreien sucht.Entstehung und Verlauf solcher Handlungsweisen können deshalb, abgesehenvon ausgesprochen allgemeinen Aussagen, auch nicht theoretisch abgeleitetoder prognostiziert werden.Emanzipation von bewusstlosen Verhältnissen ist per definitionem nur alsbewusster Formbruch denkbar und kann sich weder auf immanente Tendenzender kapitalistischen Produktionsweise noch auf krude, per sefetischimmanente »Interessenskämpfe« (für mehr Lohn, Arbeitsplätze usw.)stützen.20 Allerdings können auch bewusstlos etablierte Praxen wie etwadie Freie Software-Produktion mögliche Anknüpfungspunkte und kreative Ortefür anti-fetischistische Bewegungen sein. Immanente Kämpfe sind dabeiwichtig, doch emanzipatorischen Charakter gewinnen sie erst in Verbindungmit einer Perspektive, die nicht die Bewegung in den Fetischformenbezweckt, sondern daraus quasi zeitlich begrenzte Mittel für die Befreiungaus der Form ziehen will.Entscheidend wird dabei, ein »ethisches Kraftfeld« auf der Grundlage vonVerbundenheit, Respekt und Achtsamkeit zu generieren, das den Mut zurVeränderung und soziale Kreativitäten stimuliert. Eine solche mit derWarenform nicht verträgliche Ethik muss sich auch in materielle Praxenumsetzen, die handfeste Lebensqualitäten erzeugen und damit zugleich dieemotionellen Haltungen und Handlungsorientierungen einerpost-kapitalistischen Vergesellschaftung stabilisieren können.Emanzipation in OrganisationIm Unterschied zur lokal-subsistenten Produktion vor- und nicht-modernerGesellschaften spielt unter modernen Verhältnissen die Kooperation derIndividuen im Weltmaßstab und das in Maschinerie und Infrastrukturverkörperte Wissen vergangener Generationen die produktive Schlüsselrolle.Die Möglichkeiten der Produktion von materiellem und Beziehungsreichtumsind damit weit über das historisch bekannte Maß gewachsen. DieseMöglichkeiten sind allerdings in vieler Hinsicht bloß vorstellbarePotenzen. Sie wären erst einmal zu entwickeln und können nicht einfach inder Befreiung von einer äußerlich gedachten sozialen Form bestehen. Indiesem Sinn verkürzt die traditionell-marxistische Rede vom »Widerspruchzwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen«, der imKommunismus lediglich »aufzuheben« sei das Problem entscheidend.Tatsächlich hat der Kapitalismus beispiellose Destruktivkräfte(Kriegführung, Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen,Lebensfeindlichkeit der sozialen Verhältnisse) hervorgebracht, die eineeinfache Fortführung der bestehenden Technologien und sozialenOrganisationsweisen verbieten. Der Begriff einer abstrakten»Produktivkraft« selbst ist bloß Ausdruck der Wertverwertung, keinpositiver Anknüpfungspunkt von Emanzipation. Deshalb sind auch diedominanten Vorstellungen des Marxismus problematisch, die davon ausgehen,dass es »nur« eines kollektiven Akts der Bewusstwerdung bedarf, um dengesellschaftlichen Charakter der Produktion von einer bloß äußerlichgedachten »Hülle von Kapital und Privateigentum« im Klassen- kampf zubefreien.Das bewusste Zusammenwirken einer großen Anzahl von Menschen im Sinneihrer kollektiven Zwecksetzungen zu organisieren ist tatsächlich eine weitgrößere Herausforderung. Denn Gesellschaftlichkeit stellt sich unterkapitalistischen Verhältnissen über eine fetischistische Form her. Mitihrer Auflösung fallen die Individuen daher der Tendenz nach auf einniedrigeres Niveau der Vergesellschaftung zurück. Zwar ruht diepostfordistische Produktion auf einem höheren Maß an kooperativerEigenleistung als unter fordistischen Bedingungen. Doch realisiert siesich in bestimmten gesellschaftlichen Formen, die dieser Kooperation nichtäußerlich sind.Die Herausforderung ist auf der anderen Seite aber auch geringer. Denn eskann nicht darum gehen, ein ökologisch destruktives und sozial sinnlosesNiveau der materiellen Integration auf globaler Ebene aufrechtzuerhalten.Vielmehr wäre es vonnöten, Integration dort auf neuer Grundlage zuentwickeln bzw. nach Maßgabe bewusster Zwecksetzungen selektivfortzuführen, wo der Widerstand gegen den globalen Kapitalismus sieerfordert, sie für die Herstellung von High-Tech und kollektivem Wissensowie die Bewältigung der kapitalistischen Verheerungen notwendig ist undder kulturellen Bereicherung dient.Entfaltung zum BeziehungsreichtumDie Krise zeigt, dass Menschen ihr grundsätzliches Aufeinander-Angewiesen-Sein zwar leugnen, ihm jedoch nicht »entkommen« können, dass diekollektiven Projektionen an Funktionalität verlieren, wachsende Schmerzenproduzieren und an Stabilität einbüßen. Die Tatsache allseitigerVerbundenheit holt uns immer wieder ein – ob wir wollen oder nicht.Emanzipation würde in diesem Sinn auch bedeuten, wechselseitigeAbhängigkeit, die sich in der Krise gewaltsam geltend macht, zu erkennenund das Handeln entlang dieser Einsicht neu zu orientieren. Es ginge danndarum, die Projektion unseres gesellschaftlichen Zusammenhangs, unseresAufeinander- Angewiesen-Seins zurückzunehmen, die versachlichten Zwängevon Ware und Verwertung zu überwinden, indem wir unser Zusammenlebenbewusst und koordiniert gestalten.Die sich manifestierenden inneren Widerstände, sich aufeinander direkteinzulassen, sind dabei nicht zu unterschätzen. Die Fähigkeit,wechselseitige Abhängigkeit zu erkennen und bewusst zuzulassen ohne einander der individuellen Anerkennung zu berauben, muss vielfach erst entwickelt werden. Genau darin bestünde nämlich eine autonome Individualität, die sich von der scheinbaren Autarkie des unterschiedslosen Warensubjekts im Grundsatz unterscheidet. Ihr Ziel wäre ein Reichtum an Beziehungen, der es erlaubt und auch voraussetzt, einander nicht als Grenze zu empfinden, sondern vielmehr als Bedingung und Erweiterung der je eigenen Entfaltungsmöglichkeiten.
Anmerkungen
1 Mit dem Begriff der Selbstorganisation wird ein ursprünglichbiologisches Konzept aufGesellschaftliches übertragen, vielfach in affirmativer Absicht. Markt undKapital bildenin diesem Sinne ihren Inbegriff. Unter diesem Vorbehalt greife ich denBegriff derSelbstorganisation zwar positiv auf, möchte im Folgenden jedoch dasProblem der historischenFormbestimmung sozialer Organisation in den Vordergrund stellen. Derspringende Punkt ist nämlich nicht die Selbstorganisation als solche,sondern vielmehrdie Frage, ob Selbstorganisation in den bestehenden sozialen Formenerfolgt oder nicht.2 So bezeichnet er den Wertbegriff als den »abstrakteste(n) Ausdruck desKapitals selbstund der auf ihm ruhenden Produktionsweise« (Marx, 1974, S. 662).3 Hier ist vorerst einmal vom Wertbegriff, das heißt von Wert als einerhistorisch bestimmtensozialen Form die Rede, weder von der Wertform (Form, die der Wert imTauschwert bzw. Geld annimmt), noch vom Inhalt des Werts (der so genanntenWertsubstanz),noch von der Wertgröße. Zur kritischen Darstellung bürgerlicherWerttheoriensiehe Heinrich (2001a und b) sowie Höner (2005).4 Zur ausführlichen Kritik der Nutzentheorie: Rakowitz, 2000, S. 39ff.5 »Sage ich, Arbeit oder Nutzen im Verein mit Seltenheit [die beidenkonkurrierendenWerttheorien der ökonomischen Wissenschaft; A. E.] bestimmt den Wert, sounterscheideich schon grammatisch Arbeit und Nutzen als Satzsubjekt vom Wert alsAkkusativobjekt;Arbeit ist Arbeit und nicht Wert, wie auch Nutzen als bestimmter Begriffvom Wert zu unterscheiden ist. Es muss also möglich sein, den Wert als Wert zu beschreiben« (Backhaus, 1997, S. 391).6 Zur Methodik der Kritik der politischen Ökonomie siehe Heinrich 2001a.7 Sichtbar wird dies erst im Tausch, weil die gesellschaftlich notwendigeArbeitszeit sowohlvom zahlungsfähigen Bedarfsvolumen als auch vom Produktionsvolumen derKonkurrenten abhängt. Beides ist vorab unbekannt, da die Produktion nichtvon vornhereinals gesellschaftliche gilt, sondern in privater Form erfolgt;ausführlicher: Heinrich,2004, S. 45ff.8 Die Kritik der politischen Ökonomie befasst sich mit Gesellschaft aufder grundlegendkategorialenEbene jener Abstraktionen. Sie behandelt »nur die innere Organisation derkapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in ihrem idealenDurchschnitt« (MEW25, S. 839).9 Für eine ausführliche Darstellung historischer Marktformen – z. T. inkritischer Absetzungvon Polanyi – siehe Bürgin (1996; zur Problematik der Reichtumsproduktioninder griechischen Polis vgl. etwa Enderwitz, 2000).10 Zur Kritik von Freiwirtschaft und Tauschkreisen: Exner, Grohmann, 2005.11 Das Projekt einer Befreiung des Marktes vom Kapital ist auchKernbestand der Ideeeiner »sozialistischen Warenproduktion«; vgl. zu den damit verbundenenWidersprüchen:Stahlmann, 1990; Conert, 1990; Lohoff, 1996.12 Im Folgenden beziehe ich mich z. T. auf die von Becker (2002)rekonzeptualisierte Regulationstheorie.13 Ausführlicher zur Krisentheorie: Heinrich, 2001b.14 Ausführlich: Hirsch, 2002.15 Zum strukturell und nicht bloß empirisch patriarchalen Charakter desStaates siehe Genetti,2002.16 Nicht zuletzt das Scheitern sowohl des real- undentwicklungssozialistischen wie auchdes sozialdemokratischen Staatsdirigismus ist ein starkes empirischesArgument gegensolche Auffassungen. Als eine autonome Steuerungsinstanz der Gesellschaftist derStaat in der Globalisierungsära weniger denn je zu begreifen.17 Freilich spielen nicht-klassengebundene Widersprüche und soziale Kämpfedabei eineebenso wichtige Rolle.18 Akkumulation von Eigentumstiteln.19 Interessant ist diese allgemeine Feststellung auch vor dem Hintergrundder Herausbildungder kapitalistischen Produktionsweise aus feudalen Fetischverhältnissen(vgl.Becker, 2002, S. 129 und S. 39f.).20 Historisch sind diese Annahmen deshalb auch blank gescheitert; vgl. z.B. Boggs indiesem Band.LiteraturDownloadmöglichkeiten: www.grundrisse.net, www.krisis.org,www.streifzuege.orgBackhaus, Hans-Georg (1997): Dialektik der Wertform. Untersuchungen zurmarxschenÖkonomiekritik. Freiburg: ça ira-Verlag.Becker, Joachim (2002): Akkumulation, Regulation, Territorium. Zurkritischen Rekonstruktionder französischen Regulationstheorie. Marburg: Metropolis Verlag.Bürgin, Alfred (1996): Zur Soziogenese der Politischen Ökonomie.Wirtschaftsgeschichtlicheund dogmenhistorische Betrachtungen. Marburg: Metropolis-Verlag.Conert, Hansgeorg (1990): Die Ökonomie des unmöglichen Sozialismus. Kriseund Reformder sowjetischen Wirtschaft unter Gorbatschow. Münster: VerlagWestfälisches Dampfboot.Enderwitz, Ulrich (2000): Imperium Romanum ante portas. In: Bruhn,Joachim; Dahlmann,Manfred; Nachtmann, Clemens (Hrsg.): Kritik der Politik. Johannes Agnolizum 75. Geburtstag.Freiburg: ça ira-Verlag, S. 109-130.Exner, Andreas; Grohmann, Stephanie (2005): Bye bye Zinskritik ... Überdie Grenzen derTauschkreise und den Unsinn der Freiwirtschaft. Streifzüge 33, S. 32-38.Genetti, Eva (2002): Staat, Kapital und Geschlecht. Eine BestandsaufnahmefeministischerStaatskritik. Grundrisse 4.Görg, Christoph (2003): Regulation der Naturverhältnisse. Zu einerkritischen Theorie derökologischen Krise. Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot.Heinrich, Michael (2001a): Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritikder politischenÖkonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition.Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot.Ders. (2001b): Monetäre Werttheorie. Geld und Krise bei Marx. PROKLA 123,S. 151-176.Ders. (2004): Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung. Stuttgart:Schmetterling-Verlag.Hirsch, Joachim (2002) Herrschaft, Hegemonie und politische Alternativen.Hamburg:VSA-Verlag.Höner, Christian (2005): Über »breimäulige Faselhänse der Vulgärökonomie«.Mosaiksteinezu einer Kritik der subjektiven Wertlehre. 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Montag, April 09, 2007
Dienstag, März 27, 2007
Revenueformanalyse / KLASSEN
Hennings Vorgehen in 2.4: „Marx in der (deutschen) Soziologie“:
Henning geht auch in diesem Kapitel ähnlich vor wie in den vorangegangenen und den nachfolgenden, indem er zuerst Marx' Position bzgl. der 'Klassen' darstellt und dann auf die (Fehl-) Rezeptionen seitens der deutschen Soziologen eingeht, die auch in seiner Ansicht nach falschen bzw. 'schiefen' Entwicklungen resultierten (vgl. Schelskys 'nivellierte Mittelstandsgesellschaft', die Auffassung der Gesellschaft spätestens seit 1945 als nicht mehr klassenstrukturiert etc.) und so das Potential der Marx’schen Analyse nicht nutzten.
zuallererst eine begriffliche Unterscheidung:
Die Argumentation bzgl. der Klassenproblematik in der (deutschen) Soziologie bzw. die Diskussion derselben findet meiner Ansicht nach auf mindestens zwei verschiedenen Ebenen statt, die man unterscheiden muss, wenn man auf der einen Seite von Marx' Einfluss auf die Soziologie und deren Klassenkonzepte spricht, auf der anderen von der Rezeption der Marx'schen Klassenanalyse bzw. der möglichen Fehlrezeption, wie Henning meint:
1. analytische Ebene: Klassenanalyse als Methode: Klassen als ökonomische Kategorien: ‚Klassen’ werden von Marx, im Anschluss an Ricardo und Smith, als beobacht- und begründbare Phänomene der 'bürgerlichen Gesellschaft' (Marx) aufgefasst [Begriff der bürgerl. Gesellschaft vom jungen Marx von Hegel übernommen, vgl. KWM]; gerade in der Diskussion mit den Konzepten von Max Weber ist es wichtig, hier die verschiedenen Kategorien (ökonomisch, sozial, politisch) zu unterscheiden
2. begriffliche Ebene: 'Klassen' als Begriff einer Wissenschaft, der v.a. in der deutschen Soziologie nach 1945 begrifflich nicht mehr 'en vogue' war; meine These, die in der Diskussion im Seminar grundsätzlich auf Zustimmung zu stoßen schien: Schelskys 'nivellierte Mittelstandsgesellschaft' [1950] und die verschiedenen Schichtenmodelle beschrieben nicht etwas grundsätzlich anderes als das, was Marx mit dem Begriff der 'Klasse' beschrieben hat, aber dieser Begriff war (ideologisch) besetzt und daher nach Ansicht der Soziologen nicht verwendbar – was anscheinend auch damit einherging, dass das Phänomen einer in verschiedene Klassen geteilten Gesellschaft negiert wurde (vgl. Henning S. 239); fraglich ist, ob sich die Gesellschaftsstruktur in Deutschland je vollständig von einer Klassenstruktur löste, oder ob diese nicht trotz allem immer auch zugrunde lag; interessant ist, dass z.B. das Lexikon zur Soziologie den Klassenbegriff u.a. als ein Synonym für den Schichtbegriff definiert, vor allem für Übersetzungen aus dem Englischen, wo der Begriff der Klasse wesentlich prominenter ist (vgl. auch Ritsert 1998, S. 119ff.; Henning, S. 250, Fußnote 185); für Henning ist z.B. Schelskys Modell einer 'nivellierten Mittelstandsgesellschaft', in der sich aufgrund von (vorgeblich) starker sozialer Mobilität(smöglichkeit) die Verortung in (starren) Klassen aufgelöst habe, eine Fehleinschätzung, gerade wenn hier die bei Marx zentrale ökonomische Kategorie von z.B. kulturellen abgelöst wird (Henning, S. 238) [vgl. auch Mobilitätsstudien bis in die 1980er in der BRD und der DDR, in denen eine soziale Mobilität nur sehr bedingt nachgewiesen werden konnte, s. z.B. Rainer Geißler]
Kap. 2.4.6: „Die soziologische Behandlungsart ökonomischer Klassen“ (S. 224ff.)
Hennings Ansicht nach weist die deutsche Soziologie insgesamt und speziell ihre Beschäftigung mit den 'Klassen' einen direkten Bezug zur Neoklassik und der damit verbundenen Fehlrezeption der Marx'schen Texte auf (Henning, S. 193ff.); grundsätzlich stelle Marx einen wichtigen „Ideengeber“ dar, „und sei es nur als Negativfolie“ (Henning, S. 192)
bzgl. Marx stellt er heraus, dass ein Klassenkonzept nicht in extenso ausgearbeitet wurde, er [d.h. Marx] sei davon ausgegangen, dass eine Klassenstruktur der Gesellschaft 'selbstverständlich' ist (vgl. Henning, S. 225, Verweis auf Kapital Band 3); mit der akuten Fehlrezeption würden sich in der Beschäftigung mit Marx zudem die Ebenen der Theorie und der Empirie überlagern, auf Kosten der Einsicht, dass „Marx' Theorie (...) keine Momentanbeschreibung einer gegebenen Gesellschaft geben [will]“ (Henning, S. 229); im Gegensatz zur positivistischen Soziologie, die zeitgleich in Frankreich entstand und eher herrschaftszentriert ausgerichtet gewesen sei, habe Marx versucht zu zeigen, inwiefern der Staat selbst „nur ein Ausschuß [ist], die [sic!] die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet“ (MKP, I.12) – also ein Instrument der herrschenden Klasse ist, es geht daher hier um das Verhältnis und die (Wechsel-)Beziehung von Staat und Klasse
bzgl. Weber stellt Henning fest, dass er oberflächlich ganz ähnlich vorgeht wie Marx, indem er „an [die] Basis seiner Theorie der Klassenlage (...) ein ähnliches Kriterium [legte], nämlich das Eigentum der „Besitzklasse“ gegenüber der eigentumslosen „Erwerbsklasse“ (1922, 177)“ (Henning, S. 231); nach Henning verschiebt Weber aber dann den Fokus, indem es ihm nicht mehr um die Stellung in den Produktionsverhältnissen geht, sondern um die Chancen bzgl. der Distribution, dem Arbeitsmarkt etc., was dann zu einer (Wieder-)Einführung des Begriffs des sozialen Prestiges führt; mit diesem Schritt „entfernten sich Webers deskriptive Kategorien noch weiter von den Marx'schen“ und werde seine Analyse, von der Henning übrigens immer als „Schichtungsanalyse“ spricht, „außerökonomisch“ (Henning, S. 232); der von Henning negativ angemerkte Einfluss der Neoklassik wird dann von ihm noch anhand vier weiterer Grundbegriffe Webers ausgeführt: Handeln als Ausgangspunkt der Methode („verstehende Soziologie“), Werturteilsfreiheit, Geist des Kapitalismus, Entzauberung/Rationalisierung (Henning, S. 232ff.); nach Henning zeigt z.B. der Begriff der Rationalisierung, wie weit sich Weber von Marx entfernt hat, das „[diese] Perspektive (...) das Konstituens des Kapitalismus, das blind-anarchische Wüten der Marktkräfte, gerade nicht mehr [erfasst]“ (Henning, S. 236); retten könnte man Weber ggf. insofern, als die 'Rationalisierung' auch eine eigene innere Logik und ein un-menschliches Funktionieren der Maschinerien beschreibt, die den Menschen nurmehr als mechanisches Teil dieser Maschinerie betrachten, was dem Kapitalismus bzw. dem Markt bei Marx meiner Ansicht nach ja durchaus zukommt; allerdings stimmt es schon, dass hier zwei sehr unterschiedliche Facetten im Blick sind; mit dieser gesamten Verschiebung ging der Soziologie letztlich, so Henning, dann der „entscheidende Gegenstand“ [der Moderne] verloren (Henning, S. 236)
die Frage, die Uli auch im Seminar aufwarf, ist allerdings eine grundsätzliche, und zwar, inwiefern Marx und Max Weber hier noch von den gleichen Dingen sprechen oder ob sie sich nicht so weit voneinander entfernt haben, dass der Versuch eines Vergleichs auf dieser Ebene hinfällig wird
die deutsche Soziologie nach 1945 stellt dann eigentlich die entscheidende Fehlrezeption der Marx'schen Klassentheorie dar; hatte Weber nach Henning noch ähnliche Ansatzpunkte bzw. verschob den Fokus der Analyse, stellten die Konzepte der zweiten Hälfte des 20. Jhdt. eine wirkliche Fehldeutung dar, wie z.B. bei Schelsky, wenn die Klassenstruktur als überwunden betrachtet wurde, z.T. auch aus ideologischen Gründen (Nationalsozialismus) (Henning, S. 237ff.)
I. Karl Marx: Konzept der Klassen nicht ausführlich ausgearbeitet, die z.T. unterschiedlichen Konzepte kann man – wenn man solch eine Unterteilung vornehmen will – jeweils dem 'jungen' (Manifest der Kommunistischen Partei, 1848, im Folgenden MKP) bzw. dem 'späten' Marx (Kapital Band 3, hrsg. 1894, geschrieben aber bis 1867, d.h. im Unterschied zum MKP nach knapp 20 Jahren Beschäftigung mit ökonomischer Theorie) zurechnen oder einfach eine Entwicklung in seinen Vorstellungen festhalten, die z.T. auch mehr als drei Klassen kennen, welche z.T. auch idealtypisch konstruiert sind, d.h. Konstellationen darstellen, die zur Veranschaulichung konzipiert wurden, ohne dass sie so je real existent waren (vgl. Henning, S. 225: „Deutlich ist etwa der Kontrast des dualen Schemas der Kampfschriften (Arbeit gegen Kapital) mit den historischen Schriften, die bis zu acht Klassen kennen.“)
I.I. der junge Marx: zweigliedrige Konzeption: deutliche duale Unterscheidung von Bourgeoisie und Proletariat (vgl. Manifest der Kommunistischen Partei, 1848, z.B. I.1, 2, 5), die einen „grundlegenden Antagonismus“ (KWM, S. 621) bezeichnen:
„[5] Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.“ (MKP, I.5)
allerdings finden sich auch im Manifest Äußerungen z.B. zu „kleinen Mittelständen“ (MKP, I.35) oder zum „Lumpenproletariat“ (MKP, I.47), die zeigen, dass das duale Konzept Marxens durchlässig war für eine nicht-hermetische Gesellschaftsvorstellung; interessant ist insgesamt im Manifest, wie Marx die Klasse der Bourgeoisie als Resultat eines bestimmten Entwicklungsprozesses darstellt und diesen Entwicklungsprozess weiterführt, an dessen Ende, wiederum als Resultat dieses Prozesses, das Proletariat steht, das von der Bourgeoisie durch ihre eigene Logik [die Logik des Kapitalismus] quasi als „Totengräber“ ihrer selbst geschaffen wurde [vgl. MKP, I. 29]; Marx spricht allerdings auch von den Schichten der Gesellschaft und bezeichnet das Proletariat als „die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft“ (MKP, I.50)
[Engels konzipiert dann im Anti-Dühring [1878] ebenfalls drei Klassen und unterscheidet zwischen Feudalaristokratie, Bourgeoisie und Proletariat (KWM, S. 621)]
I.II. der späte Marx: dreigliedrige Konzeption: Entwurf im 3. Band des Kapitals, in dem drei zentrale Klassen: Lohnarbeiter, Kapitalisten, Grundeigentümer, angeführt und die sogenannten Revenuen und Revenuequellen als Unterscheidungskriterien angegeben werden:
„Was macht Lohnarbeiter, Kapitalisten, Grundeigentümer zu Bildnern der drei großen gesellschaftliche Klassen? Auf den ersten Blick die Dieselbigkeit der Revenuen und Revenuequellen. Es sind drei große gesellschaftliche Gruppen, deren Komponenten, die sie bildenden Individuen, resp. von Arbeitslohn, Profit und Grundrente, von der Verwertung ihrer Arbeitskraft, ihres Kapitals und ihres Grundeigentums leben.“ (Kapital Band 3, S. 893)
die angedeutete Befassung mit weiteren möglichen Differenzierungen bleibt aus, da an dieser Stelle das Manuskript abbricht;
· inhaltlicher Einschub: Rekonstruktion der Revenueformanalyse: Marx arbeitet (bewusst) mit einer Doppeldeutigkeit des Begriffs „Revenue“, wobei er den Begriff nutzt, „(...) erstens um den Mehrwert als periodisch aus dem Kapital entspringende Frucht, zweitens um den Teil dieser Frucht zu bezeichnen, der vom Kapitalisten periodisch verzehrt oder zu seinem Konsumtionsfonds geschlagen wird.“ (Kapital Band 1, S. 618, Anmerkung 33) „Revenue“ wird also einmal synonym zum Begriff des „Mehrwerts“ benutzt, im anderen Fall zur Bezeichnung eines Teils diesen Mehrwerts, der dem Kapitalisten kontinuierlich zukommt. Laut Marx gibt es drei Revenueformen, und zwar den Lohn, den Zins und die Rente. Dabei wird dem Arbeiter der Lohn zugeordnet, dem (Geld-)Kapitalisten der Zins und dem Rentier die Rente. Diesen drei Revenueformen entsprechen drei Revenuequellen, nämlich das Geldkapital (Zins), der Boden (Rente) und der Arbeiter selbst (Lohn) (vgl. z.B. Kapital Band 3, S. 822). Dabei herrscht zwischen dem Unternehmer und den Revenuebeziehern, also den Arbeitern/(Geld-)Kapitalisten/Rentnern, sowohl ein Kauf- als auch ein Leihverhältnis der entsprechenden 'Güter', z.B. Arbeitskraft gegen Lohn und Geld gegen Zinsen. Die Revenuen bezeichnen so nicht nur einfach das Einkommen der jeweiligen Gruppen, sondern vielmehr die Entlohnung der aufgewendeten Arbeit plus eine 'Leihgebühr' [dies wird anhand des Zins-Beispiels meiner Ansicht nach besonders deutlich].
Folgt man nun der Argumentation dieser dreigliedrigen Konzeption (oder „trinitarischen Formel“, wie es bei Marx heißt, vgl. Kapital Band 3, S. 822), steht der Unternehmer als Repräsentant einer vierten Gruppe den drei genannten Gruppen gegenüber, so dass sich nicht drei gesellschaftliche Klassen, sondern vier ergeben. Aus der Trinität wird die „Troika“: einer lenkt und drei sind eingespannt (siehe Roth in: www.wertformanalyse)
Würde man versuchen, die Aussagen zu den Klassen im obigen Zitat auf die im Manifest zu komprimieren (was allerdings unlogisch, da entgegen der chronologischen und auch inhaltlichen Entwicklung in Marx’ Werk wäre), so könnte man schließen, dass letztendlich die verschiedenen mittelständischen Klassen im Entwicklungsprozess „ins Proletariat hinab[fallen]“ (MKP, I.35) oder „verkommen“ (MKP, I.45) bzw. Teile von ihnen als Ideologen des Proletariats in diese Klasse wechseln (MKP, I.44), was für Marx einen notwendigen Schritt bedeutet, „weil nur durch diese bürgerlichen Philosophen dem Proletariat die zur Klassenintegration unerlässliche Bewusstseinsbildung vermittelt werden kann“ (s. Erläuterung I.44 zum Manifest) – was die Bedeutung von Marx und Engels für die Bewegung wiederum auch theoretisch rechtfertigt
II. Max Weber: ebenfalls kein ausformuliertes Klassenkonzept, wichtigste Anmerkungen in den beiden Kapiteln „Stände und Klassen“ und „Stände, Klassen, Parteien“ im ursprünglich von Marianne Weber 1922 nach Webers Tod herausgegebenen Wirtschaft und Gesellschaft (im Folgenden WuG); insgesamt erscheinen die drei 'Klassenarten', die Weber unterscheidet, nicht ganz eindeutig abgrenzbar und nicht eindeutig auf Marx' Klassenbegriffe übertragbar
II.I Klassen: Weber siedelt die Klassen im Bereich der Wirtschaftsordnung an (vgl. WuG, S. 539) und unterscheidet grundsätzlich Besitz-, Erwerbs- und soziale Klassen; dabei stellt er für die ersten beiden Fälle jeweils eine Dreigliederung vor, die
a. Besitzklasse: die sog. 'positiv privilegierte Besitzklassen', 'negativ privilegierte Besitzklassen' und die 'Mittelstandsklassen' umfasst (WuG, S. 178); dazu sagt Weber weiter:
„Die reine Besitzklassengliederung ist nicht „dynamisch“, d.h. sie führt nicht notwendig zu Klassenkämpfen und Klassenrevolutionen. (...) Nur kann der Besitzklassengegensatz (...) zu revolutionären Kämpfen führen, die aber nicht notwendig eine Aenderung [sic!] der Wirtschaftsverfassung, sondern primär lediglich der Besitzausstattung und -verteilung bezwecken (Besitzklassenrevolution).“ (WuG, S. 178, Hervorhebungen im Original)
b. Erwerbsklasse: die sog. 'positiv privilegierte Erwerbsklassen' [Bsp. Unternehmer], 'negativ privilegierte Erwerbsklassen' [Bsp. Arbeiter] und die 'Mittelklassen' [Bsp. selbständige Bauern, Handwerker, „freie Berufe“ oder solche „mit bevorzugten Eigenschaften“ wie Anwälte, Ärzte, Künstler] umfasst (WuG, S. 178f., Hervorhebungen im Original)
c. soziale Klassen: im Fall der sozialen Klassen differenziert Weber etwas weiter in vier Gruppen: „die Arbeiterschaft als Ganzes, je automatisierter der Arbeitsprozeß wird (...), das Kleinbürgertum (...) die besitzlose Intelligenz und Fachgeschultheit (Techniker, kommerzielle und andere „Angestellte“, das Beamtentum, untereinander eventuell sozial sehr geschieden, je nach Schulungskosten), (...) die Klassen der Besitzenden und durch Bildung Privilegierten“ (WuG, S. 179)
→ hier anschließend in einem Abschnitt Bezugnahme auf das unausgearbeitete Kapitel zu den 'Klassen' im Kapital; später heißt es an anderer Stelle bzgl. des Verhältnisses von Klassen und der Gesellschaft:
„Immer aber ist für den Klassenbegriff gemeinsam: daß die Art der Chance auf dem Markt diejenige Instanz ist, welche die gemeinsame Bedingung des Schicksals der Einzelnen darstellt. „Klassenlage“ ist in diesem Sinn letzlich: „Marktlage“. (...) Es sind nach dieser Terminologie eindeutig ökonomische Interessen, und zwar an die Existenz des „Markts“ gebundene, welche die „Klasse“ schaffen.“ (WuG, S. 532, Hervorhebung im Original)
→ Markt und Klassen erscheinen hier also als untrennbar miteinander verknüpft
II.II Klasse und Stand:
insgesamt ist die Unterscheidung von Klasse (im Bereich der „Wirtschaftsordnung“ angesiedelt) und Stand (im Bereich der „sozialen Ordnung“ angesiedelt, je WuG, S. 539) bei Weber folgende:
„Ständische Lage soll heißen eine typisch wirksam in Anspruch genommene positive oder negative Privilegierung in der sozialen Schätzung (...). Dem „Stand“ steht von den „Klassen“ die „soziale“ Klasse am nächsten, die „Erwerbsklasse“ am fernsten. Stände werden oft ihrem Schwerpunkt nach durch Besitzklassen gebildet.“ (WuG, S. 179f., Hervorhebungen im Original)
das Konzept des „Standes“ ist dabei vor allem an die Begriffe der Ehre und des sozialen Prestiges geknüpft (WuG, S. 179; S. 534f.) und findet sich vor allem in den vormodernen (z.B. feudalen) Gesellschaften
III. 'Klassen' heute:
Meiner Ansicht nach findet auch bei der Diskussion bzw. der Verwendung des Klassenbegriffs ähnlich wie bei der derzeitigen Marx-Lektüre eine Neuorientierung statt, die versucht, sich von den belastenden ideologischen Vorverständnissen frei zu machen. Dies lässt sich nicht nur in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften beobachten, sondern vor allem auch im Alltagssprachgebrauch (vgl. auch Henning, z.B. Fußnoten 166; 184); die verschiedenen postmarxistischen Ansätze in den Kulturwissenschaften und Cultural Studies zeigen zudem seit einiger Zeit, dass Marx erneut als Fundament genutzt, wenn auch vielleicht (noch) nicht immer neu gelesen wird.
Anmerkungen:
· zu Henning und Max Weber: man kann jedenfalls den frühen Max Weber (Erstfassung der Protestantischen Ethik von 1904/1905) auch so lesen, dass er nicht versucht, ein Gegenmodell zu Marx zu entwickeln, sondern vielmehr eine andere Seite der Entwicklung aufzuzeigen: Weber zufolge sind immer sowohl Ideen- als auch Interessenkonstellationen entscheidend für eine bestimmte gesellschaftliche Entwicklung, d.h., es gibt immer zwei Bedingtheiten; in der Protestantischen Ethik beschäftigt er sich aber z.B. explizit nur mit der einen (ideellen) Seite der Entstehung des Kapitalismus, ohne die andere Seite zu negieren oder ihr Wichtigkeit abzusprechen [vgl. Protestantischen Ethik, v.a. S. 66-68]
· zu Henning und der soziologischen Klassentheorie nach 1945: zustimmen würde ich Henning, dass es diesbezüglich v.a. in der deutschen Soziologie eine Schieflage gab (und ggf. noch gibt), exemplarisch wird das deutlich, wenn man sich verschiedene Mobilitätsstudien bis in die 1980er Jahre ansieht, die zeigen, dass soziale Mobilität weder in der BRD noch in der DDR in dem Maße gegeben war, dass sie den Begriff einer 'nivellierten Mittelstandsgesellschaft' (Schelsky, bezogen auf BRD) rechtfertigen würden; ebenfalls war sicher der Klassenbegriff ideologisch besetzt, wurde meiner Ansicht nach aber z.T. durch den Begriff der „Schicht“ ersetzt, wobei dieser nicht mehr in erster Linie ökonomisch bestimmt war und ist; gleichzeitig bezeichnet das sog. „Schichtungsmodell“ weiterhin ein dichotomes Modell des Gesellschaft, das zwischen zwei sozialen Gruppen unterscheidet, die sich gegenüber stehen; Henning spricht die soziale Schichtung zwar zu Beginn in der Einleitung in das Kapitel an (Henning, S. 226), kommt anschließend aber nicht mehr explizit darauf zurück – was verständlich ist, da es ihm nicht um eine Analyse soziologischer Fachbegriffe geht, aber meiner Ansicht nach geht ihm hier ein Aspekt verloren.
Was für ein generelles Verständnis von Marx' Klassenbegriff nicht fehlen darf:
Unterscheidung von Marx zwischen der Klasse an sich und der Klasse für sich: Erstere stellt eine Gruppe von Menschen dar, die unter den gleichen Bedingungen bzgl. der Produktionsverhältnisse und -mittel leben, denen aber das Bewusstsein für ihre eigene Situation bzw. ihre Interessenlage (also eine bestimmte Qualität des Klassenbewusstseins) und die Organisation (als Klasse) fehlt; letztere weist genau dieses Bewusstsein (des Klasseninteresses) und diese Organisation auf; für Marx geht es darum, dass die 'Klasse an sich' zu einer 'Klasse (an und) für sich' werde.
Siehe auch:
· Fuchs-Heinritz, Werner et al. (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie. Opladen 31994, v.a. S. 334ff.
· Gubbay, Jon: A Marxist Critique of Weberian Class Analysis. In: Sociology 31/1997, S. 73-89.
· die Einträge 'Klasse' und 'Klassenkampf', in: Labica, Georges und Gérard Bensussan (Hrsg.): Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 4. Berlin 1986, S. 615ff. (hier abgekürzt mit KWM).
· Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. MEW 23. Berlin 1962 [Hamburg 1890].
· Marx, Karl: Die Klassen. In: Engels, Friedrich (Hrsg.): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. MEW 25. Berlin 1968 [Hamburg 1894], S. 892-893.
· Marx, Karl: Manifest der Kommunistischen Partei. Hrsg. und kommentiert von Theo Stammen. München 21978 [1848], (hier abgekürzt mit MKP).
· Ritsert, Jürgen: Soziale Klassen. Münster 1998, v.a. Kapitel 3 und 5.
· Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. München 2004 [Nachdruck der Fassung von 1920; Ersterscheinung 1904/1905].
· Weber, Max: Stände und Klassen. In: ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie (hier abgekürzt mit WuG). Tübingen 51980 [1922], S. 177-180.
· Weber, Max: Klassen, Stände, Parteien. In: ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen 51980 [1922], S. 531-540.
Henning geht auch in diesem Kapitel ähnlich vor wie in den vorangegangenen und den nachfolgenden, indem er zuerst Marx' Position bzgl. der 'Klassen' darstellt und dann auf die (Fehl-) Rezeptionen seitens der deutschen Soziologen eingeht, die auch in seiner Ansicht nach falschen bzw. 'schiefen' Entwicklungen resultierten (vgl. Schelskys 'nivellierte Mittelstandsgesellschaft', die Auffassung der Gesellschaft spätestens seit 1945 als nicht mehr klassenstrukturiert etc.) und so das Potential der Marx’schen Analyse nicht nutzten.
zuallererst eine begriffliche Unterscheidung:
Die Argumentation bzgl. der Klassenproblematik in der (deutschen) Soziologie bzw. die Diskussion derselben findet meiner Ansicht nach auf mindestens zwei verschiedenen Ebenen statt, die man unterscheiden muss, wenn man auf der einen Seite von Marx' Einfluss auf die Soziologie und deren Klassenkonzepte spricht, auf der anderen von der Rezeption der Marx'schen Klassenanalyse bzw. der möglichen Fehlrezeption, wie Henning meint:
1. analytische Ebene: Klassenanalyse als Methode: Klassen als ökonomische Kategorien: ‚Klassen’ werden von Marx, im Anschluss an Ricardo und Smith, als beobacht- und begründbare Phänomene der 'bürgerlichen Gesellschaft' (Marx) aufgefasst [Begriff der bürgerl. Gesellschaft vom jungen Marx von Hegel übernommen, vgl. KWM]; gerade in der Diskussion mit den Konzepten von Max Weber ist es wichtig, hier die verschiedenen Kategorien (ökonomisch, sozial, politisch) zu unterscheiden
2. begriffliche Ebene: 'Klassen' als Begriff einer Wissenschaft, der v.a. in der deutschen Soziologie nach 1945 begrifflich nicht mehr 'en vogue' war; meine These, die in der Diskussion im Seminar grundsätzlich auf Zustimmung zu stoßen schien: Schelskys 'nivellierte Mittelstandsgesellschaft' [1950] und die verschiedenen Schichtenmodelle beschrieben nicht etwas grundsätzlich anderes als das, was Marx mit dem Begriff der 'Klasse' beschrieben hat, aber dieser Begriff war (ideologisch) besetzt und daher nach Ansicht der Soziologen nicht verwendbar – was anscheinend auch damit einherging, dass das Phänomen einer in verschiedene Klassen geteilten Gesellschaft negiert wurde (vgl. Henning S. 239); fraglich ist, ob sich die Gesellschaftsstruktur in Deutschland je vollständig von einer Klassenstruktur löste, oder ob diese nicht trotz allem immer auch zugrunde lag; interessant ist, dass z.B. das Lexikon zur Soziologie den Klassenbegriff u.a. als ein Synonym für den Schichtbegriff definiert, vor allem für Übersetzungen aus dem Englischen, wo der Begriff der Klasse wesentlich prominenter ist (vgl. auch Ritsert 1998, S. 119ff.; Henning, S. 250, Fußnote 185); für Henning ist z.B. Schelskys Modell einer 'nivellierten Mittelstandsgesellschaft', in der sich aufgrund von (vorgeblich) starker sozialer Mobilität(smöglichkeit) die Verortung in (starren) Klassen aufgelöst habe, eine Fehleinschätzung, gerade wenn hier die bei Marx zentrale ökonomische Kategorie von z.B. kulturellen abgelöst wird (Henning, S. 238) [vgl. auch Mobilitätsstudien bis in die 1980er in der BRD und der DDR, in denen eine soziale Mobilität nur sehr bedingt nachgewiesen werden konnte, s. z.B. Rainer Geißler]
Kap. 2.4.6: „Die soziologische Behandlungsart ökonomischer Klassen“ (S. 224ff.)
Hennings Ansicht nach weist die deutsche Soziologie insgesamt und speziell ihre Beschäftigung mit den 'Klassen' einen direkten Bezug zur Neoklassik und der damit verbundenen Fehlrezeption der Marx'schen Texte auf (Henning, S. 193ff.); grundsätzlich stelle Marx einen wichtigen „Ideengeber“ dar, „und sei es nur als Negativfolie“ (Henning, S. 192)
bzgl. Marx stellt er heraus, dass ein Klassenkonzept nicht in extenso ausgearbeitet wurde, er [d.h. Marx] sei davon ausgegangen, dass eine Klassenstruktur der Gesellschaft 'selbstverständlich' ist (vgl. Henning, S. 225, Verweis auf Kapital Band 3); mit der akuten Fehlrezeption würden sich in der Beschäftigung mit Marx zudem die Ebenen der Theorie und der Empirie überlagern, auf Kosten der Einsicht, dass „Marx' Theorie (...) keine Momentanbeschreibung einer gegebenen Gesellschaft geben [will]“ (Henning, S. 229); im Gegensatz zur positivistischen Soziologie, die zeitgleich in Frankreich entstand und eher herrschaftszentriert ausgerichtet gewesen sei, habe Marx versucht zu zeigen, inwiefern der Staat selbst „nur ein Ausschuß [ist], die [sic!] die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet“ (MKP, I.12) – also ein Instrument der herrschenden Klasse ist, es geht daher hier um das Verhältnis und die (Wechsel-)Beziehung von Staat und Klasse
bzgl. Weber stellt Henning fest, dass er oberflächlich ganz ähnlich vorgeht wie Marx, indem er „an [die] Basis seiner Theorie der Klassenlage (...) ein ähnliches Kriterium [legte], nämlich das Eigentum der „Besitzklasse“ gegenüber der eigentumslosen „Erwerbsklasse“ (1922, 177)“ (Henning, S. 231); nach Henning verschiebt Weber aber dann den Fokus, indem es ihm nicht mehr um die Stellung in den Produktionsverhältnissen geht, sondern um die Chancen bzgl. der Distribution, dem Arbeitsmarkt etc., was dann zu einer (Wieder-)Einführung des Begriffs des sozialen Prestiges führt; mit diesem Schritt „entfernten sich Webers deskriptive Kategorien noch weiter von den Marx'schen“ und werde seine Analyse, von der Henning übrigens immer als „Schichtungsanalyse“ spricht, „außerökonomisch“ (Henning, S. 232); der von Henning negativ angemerkte Einfluss der Neoklassik wird dann von ihm noch anhand vier weiterer Grundbegriffe Webers ausgeführt: Handeln als Ausgangspunkt der Methode („verstehende Soziologie“), Werturteilsfreiheit, Geist des Kapitalismus, Entzauberung/Rationalisierung (Henning, S. 232ff.); nach Henning zeigt z.B. der Begriff der Rationalisierung, wie weit sich Weber von Marx entfernt hat, das „[diese] Perspektive (...) das Konstituens des Kapitalismus, das blind-anarchische Wüten der Marktkräfte, gerade nicht mehr [erfasst]“ (Henning, S. 236); retten könnte man Weber ggf. insofern, als die 'Rationalisierung' auch eine eigene innere Logik und ein un-menschliches Funktionieren der Maschinerien beschreibt, die den Menschen nurmehr als mechanisches Teil dieser Maschinerie betrachten, was dem Kapitalismus bzw. dem Markt bei Marx meiner Ansicht nach ja durchaus zukommt; allerdings stimmt es schon, dass hier zwei sehr unterschiedliche Facetten im Blick sind; mit dieser gesamten Verschiebung ging der Soziologie letztlich, so Henning, dann der „entscheidende Gegenstand“ [der Moderne] verloren (Henning, S. 236)
die Frage, die Uli auch im Seminar aufwarf, ist allerdings eine grundsätzliche, und zwar, inwiefern Marx und Max Weber hier noch von den gleichen Dingen sprechen oder ob sie sich nicht so weit voneinander entfernt haben, dass der Versuch eines Vergleichs auf dieser Ebene hinfällig wird
die deutsche Soziologie nach 1945 stellt dann eigentlich die entscheidende Fehlrezeption der Marx'schen Klassentheorie dar; hatte Weber nach Henning noch ähnliche Ansatzpunkte bzw. verschob den Fokus der Analyse, stellten die Konzepte der zweiten Hälfte des 20. Jhdt. eine wirkliche Fehldeutung dar, wie z.B. bei Schelsky, wenn die Klassenstruktur als überwunden betrachtet wurde, z.T. auch aus ideologischen Gründen (Nationalsozialismus) (Henning, S. 237ff.)
I. Karl Marx: Konzept der Klassen nicht ausführlich ausgearbeitet, die z.T. unterschiedlichen Konzepte kann man – wenn man solch eine Unterteilung vornehmen will – jeweils dem 'jungen' (Manifest der Kommunistischen Partei, 1848, im Folgenden MKP) bzw. dem 'späten' Marx (Kapital Band 3, hrsg. 1894, geschrieben aber bis 1867, d.h. im Unterschied zum MKP nach knapp 20 Jahren Beschäftigung mit ökonomischer Theorie) zurechnen oder einfach eine Entwicklung in seinen Vorstellungen festhalten, die z.T. auch mehr als drei Klassen kennen, welche z.T. auch idealtypisch konstruiert sind, d.h. Konstellationen darstellen, die zur Veranschaulichung konzipiert wurden, ohne dass sie so je real existent waren (vgl. Henning, S. 225: „Deutlich ist etwa der Kontrast des dualen Schemas der Kampfschriften (Arbeit gegen Kapital) mit den historischen Schriften, die bis zu acht Klassen kennen.“)
I.I. der junge Marx: zweigliedrige Konzeption: deutliche duale Unterscheidung von Bourgeoisie und Proletariat (vgl. Manifest der Kommunistischen Partei, 1848, z.B. I.1, 2, 5), die einen „grundlegenden Antagonismus“ (KWM, S. 621) bezeichnen:
„[5] Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.“ (MKP, I.5)
allerdings finden sich auch im Manifest Äußerungen z.B. zu „kleinen Mittelständen“ (MKP, I.35) oder zum „Lumpenproletariat“ (MKP, I.47), die zeigen, dass das duale Konzept Marxens durchlässig war für eine nicht-hermetische Gesellschaftsvorstellung; interessant ist insgesamt im Manifest, wie Marx die Klasse der Bourgeoisie als Resultat eines bestimmten Entwicklungsprozesses darstellt und diesen Entwicklungsprozess weiterführt, an dessen Ende, wiederum als Resultat dieses Prozesses, das Proletariat steht, das von der Bourgeoisie durch ihre eigene Logik [die Logik des Kapitalismus] quasi als „Totengräber“ ihrer selbst geschaffen wurde [vgl. MKP, I. 29]; Marx spricht allerdings auch von den Schichten der Gesellschaft und bezeichnet das Proletariat als „die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft“ (MKP, I.50)
[Engels konzipiert dann im Anti-Dühring [1878] ebenfalls drei Klassen und unterscheidet zwischen Feudalaristokratie, Bourgeoisie und Proletariat (KWM, S. 621)]
I.II. der späte Marx: dreigliedrige Konzeption: Entwurf im 3. Band des Kapitals, in dem drei zentrale Klassen: Lohnarbeiter, Kapitalisten, Grundeigentümer, angeführt und die sogenannten Revenuen und Revenuequellen als Unterscheidungskriterien angegeben werden:
„Was macht Lohnarbeiter, Kapitalisten, Grundeigentümer zu Bildnern der drei großen gesellschaftliche Klassen? Auf den ersten Blick die Dieselbigkeit der Revenuen und Revenuequellen. Es sind drei große gesellschaftliche Gruppen, deren Komponenten, die sie bildenden Individuen, resp. von Arbeitslohn, Profit und Grundrente, von der Verwertung ihrer Arbeitskraft, ihres Kapitals und ihres Grundeigentums leben.“ (Kapital Band 3, S. 893)
die angedeutete Befassung mit weiteren möglichen Differenzierungen bleibt aus, da an dieser Stelle das Manuskript abbricht;
· inhaltlicher Einschub: Rekonstruktion der Revenueformanalyse: Marx arbeitet (bewusst) mit einer Doppeldeutigkeit des Begriffs „Revenue“, wobei er den Begriff nutzt, „(...) erstens um den Mehrwert als periodisch aus dem Kapital entspringende Frucht, zweitens um den Teil dieser Frucht zu bezeichnen, der vom Kapitalisten periodisch verzehrt oder zu seinem Konsumtionsfonds geschlagen wird.“ (Kapital Band 1, S. 618, Anmerkung 33) „Revenue“ wird also einmal synonym zum Begriff des „Mehrwerts“ benutzt, im anderen Fall zur Bezeichnung eines Teils diesen Mehrwerts, der dem Kapitalisten kontinuierlich zukommt. Laut Marx gibt es drei Revenueformen, und zwar den Lohn, den Zins und die Rente. Dabei wird dem Arbeiter der Lohn zugeordnet, dem (Geld-)Kapitalisten der Zins und dem Rentier die Rente. Diesen drei Revenueformen entsprechen drei Revenuequellen, nämlich das Geldkapital (Zins), der Boden (Rente) und der Arbeiter selbst (Lohn) (vgl. z.B. Kapital Band 3, S. 822). Dabei herrscht zwischen dem Unternehmer und den Revenuebeziehern, also den Arbeitern/(Geld-)Kapitalisten/Rentnern, sowohl ein Kauf- als auch ein Leihverhältnis der entsprechenden 'Güter', z.B. Arbeitskraft gegen Lohn und Geld gegen Zinsen. Die Revenuen bezeichnen so nicht nur einfach das Einkommen der jeweiligen Gruppen, sondern vielmehr die Entlohnung der aufgewendeten Arbeit plus eine 'Leihgebühr' [dies wird anhand des Zins-Beispiels meiner Ansicht nach besonders deutlich].
Folgt man nun der Argumentation dieser dreigliedrigen Konzeption (oder „trinitarischen Formel“, wie es bei Marx heißt, vgl. Kapital Band 3, S. 822), steht der Unternehmer als Repräsentant einer vierten Gruppe den drei genannten Gruppen gegenüber, so dass sich nicht drei gesellschaftliche Klassen, sondern vier ergeben. Aus der Trinität wird die „Troika“: einer lenkt und drei sind eingespannt (siehe Roth in: www.wertformanalyse)
Würde man versuchen, die Aussagen zu den Klassen im obigen Zitat auf die im Manifest zu komprimieren (was allerdings unlogisch, da entgegen der chronologischen und auch inhaltlichen Entwicklung in Marx’ Werk wäre), so könnte man schließen, dass letztendlich die verschiedenen mittelständischen Klassen im Entwicklungsprozess „ins Proletariat hinab[fallen]“ (MKP, I.35) oder „verkommen“ (MKP, I.45) bzw. Teile von ihnen als Ideologen des Proletariats in diese Klasse wechseln (MKP, I.44), was für Marx einen notwendigen Schritt bedeutet, „weil nur durch diese bürgerlichen Philosophen dem Proletariat die zur Klassenintegration unerlässliche Bewusstseinsbildung vermittelt werden kann“ (s. Erläuterung I.44 zum Manifest) – was die Bedeutung von Marx und Engels für die Bewegung wiederum auch theoretisch rechtfertigt
II. Max Weber: ebenfalls kein ausformuliertes Klassenkonzept, wichtigste Anmerkungen in den beiden Kapiteln „Stände und Klassen“ und „Stände, Klassen, Parteien“ im ursprünglich von Marianne Weber 1922 nach Webers Tod herausgegebenen Wirtschaft und Gesellschaft (im Folgenden WuG); insgesamt erscheinen die drei 'Klassenarten', die Weber unterscheidet, nicht ganz eindeutig abgrenzbar und nicht eindeutig auf Marx' Klassenbegriffe übertragbar
II.I Klassen: Weber siedelt die Klassen im Bereich der Wirtschaftsordnung an (vgl. WuG, S. 539) und unterscheidet grundsätzlich Besitz-, Erwerbs- und soziale Klassen; dabei stellt er für die ersten beiden Fälle jeweils eine Dreigliederung vor, die
a. Besitzklasse: die sog. 'positiv privilegierte Besitzklassen', 'negativ privilegierte Besitzklassen' und die 'Mittelstandsklassen' umfasst (WuG, S. 178); dazu sagt Weber weiter:
„Die reine Besitzklassengliederung ist nicht „dynamisch“, d.h. sie führt nicht notwendig zu Klassenkämpfen und Klassenrevolutionen. (...) Nur kann der Besitzklassengegensatz (...) zu revolutionären Kämpfen führen, die aber nicht notwendig eine Aenderung [sic!] der Wirtschaftsverfassung, sondern primär lediglich der Besitzausstattung und -verteilung bezwecken (Besitzklassenrevolution).“ (WuG, S. 178, Hervorhebungen im Original)
b. Erwerbsklasse: die sog. 'positiv privilegierte Erwerbsklassen' [Bsp. Unternehmer], 'negativ privilegierte Erwerbsklassen' [Bsp. Arbeiter] und die 'Mittelklassen' [Bsp. selbständige Bauern, Handwerker, „freie Berufe“ oder solche „mit bevorzugten Eigenschaften“ wie Anwälte, Ärzte, Künstler] umfasst (WuG, S. 178f., Hervorhebungen im Original)
c. soziale Klassen: im Fall der sozialen Klassen differenziert Weber etwas weiter in vier Gruppen: „die Arbeiterschaft als Ganzes, je automatisierter der Arbeitsprozeß wird (...), das Kleinbürgertum (...) die besitzlose Intelligenz und Fachgeschultheit (Techniker, kommerzielle und andere „Angestellte“, das Beamtentum, untereinander eventuell sozial sehr geschieden, je nach Schulungskosten), (...) die Klassen der Besitzenden und durch Bildung Privilegierten“ (WuG, S. 179)
→ hier anschließend in einem Abschnitt Bezugnahme auf das unausgearbeitete Kapitel zu den 'Klassen' im Kapital; später heißt es an anderer Stelle bzgl. des Verhältnisses von Klassen und der Gesellschaft:
„Immer aber ist für den Klassenbegriff gemeinsam: daß die Art der Chance auf dem Markt diejenige Instanz ist, welche die gemeinsame Bedingung des Schicksals der Einzelnen darstellt. „Klassenlage“ ist in diesem Sinn letzlich: „Marktlage“. (...) Es sind nach dieser Terminologie eindeutig ökonomische Interessen, und zwar an die Existenz des „Markts“ gebundene, welche die „Klasse“ schaffen.“ (WuG, S. 532, Hervorhebung im Original)
→ Markt und Klassen erscheinen hier also als untrennbar miteinander verknüpft
II.II Klasse und Stand:
insgesamt ist die Unterscheidung von Klasse (im Bereich der „Wirtschaftsordnung“ angesiedelt) und Stand (im Bereich der „sozialen Ordnung“ angesiedelt, je WuG, S. 539) bei Weber folgende:
„Ständische Lage soll heißen eine typisch wirksam in Anspruch genommene positive oder negative Privilegierung in der sozialen Schätzung (...). Dem „Stand“ steht von den „Klassen“ die „soziale“ Klasse am nächsten, die „Erwerbsklasse“ am fernsten. Stände werden oft ihrem Schwerpunkt nach durch Besitzklassen gebildet.“ (WuG, S. 179f., Hervorhebungen im Original)
das Konzept des „Standes“ ist dabei vor allem an die Begriffe der Ehre und des sozialen Prestiges geknüpft (WuG, S. 179; S. 534f.) und findet sich vor allem in den vormodernen (z.B. feudalen) Gesellschaften
III. 'Klassen' heute:
Meiner Ansicht nach findet auch bei der Diskussion bzw. der Verwendung des Klassenbegriffs ähnlich wie bei der derzeitigen Marx-Lektüre eine Neuorientierung statt, die versucht, sich von den belastenden ideologischen Vorverständnissen frei zu machen. Dies lässt sich nicht nur in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften beobachten, sondern vor allem auch im Alltagssprachgebrauch (vgl. auch Henning, z.B. Fußnoten 166; 184); die verschiedenen postmarxistischen Ansätze in den Kulturwissenschaften und Cultural Studies zeigen zudem seit einiger Zeit, dass Marx erneut als Fundament genutzt, wenn auch vielleicht (noch) nicht immer neu gelesen wird.
Anmerkungen:
· zu Henning und Max Weber: man kann jedenfalls den frühen Max Weber (Erstfassung der Protestantischen Ethik von 1904/1905) auch so lesen, dass er nicht versucht, ein Gegenmodell zu Marx zu entwickeln, sondern vielmehr eine andere Seite der Entwicklung aufzuzeigen: Weber zufolge sind immer sowohl Ideen- als auch Interessenkonstellationen entscheidend für eine bestimmte gesellschaftliche Entwicklung, d.h., es gibt immer zwei Bedingtheiten; in der Protestantischen Ethik beschäftigt er sich aber z.B. explizit nur mit der einen (ideellen) Seite der Entstehung des Kapitalismus, ohne die andere Seite zu negieren oder ihr Wichtigkeit abzusprechen [vgl. Protestantischen Ethik, v.a. S. 66-68]
· zu Henning und der soziologischen Klassentheorie nach 1945: zustimmen würde ich Henning, dass es diesbezüglich v.a. in der deutschen Soziologie eine Schieflage gab (und ggf. noch gibt), exemplarisch wird das deutlich, wenn man sich verschiedene Mobilitätsstudien bis in die 1980er Jahre ansieht, die zeigen, dass soziale Mobilität weder in der BRD noch in der DDR in dem Maße gegeben war, dass sie den Begriff einer 'nivellierten Mittelstandsgesellschaft' (Schelsky, bezogen auf BRD) rechtfertigen würden; ebenfalls war sicher der Klassenbegriff ideologisch besetzt, wurde meiner Ansicht nach aber z.T. durch den Begriff der „Schicht“ ersetzt, wobei dieser nicht mehr in erster Linie ökonomisch bestimmt war und ist; gleichzeitig bezeichnet das sog. „Schichtungsmodell“ weiterhin ein dichotomes Modell des Gesellschaft, das zwischen zwei sozialen Gruppen unterscheidet, die sich gegenüber stehen; Henning spricht die soziale Schichtung zwar zu Beginn in der Einleitung in das Kapitel an (Henning, S. 226), kommt anschließend aber nicht mehr explizit darauf zurück – was verständlich ist, da es ihm nicht um eine Analyse soziologischer Fachbegriffe geht, aber meiner Ansicht nach geht ihm hier ein Aspekt verloren.
Was für ein generelles Verständnis von Marx' Klassenbegriff nicht fehlen darf:
Unterscheidung von Marx zwischen der Klasse an sich und der Klasse für sich: Erstere stellt eine Gruppe von Menschen dar, die unter den gleichen Bedingungen bzgl. der Produktionsverhältnisse und -mittel leben, denen aber das Bewusstsein für ihre eigene Situation bzw. ihre Interessenlage (also eine bestimmte Qualität des Klassenbewusstseins) und die Organisation (als Klasse) fehlt; letztere weist genau dieses Bewusstsein (des Klasseninteresses) und diese Organisation auf; für Marx geht es darum, dass die 'Klasse an sich' zu einer 'Klasse (an und) für sich' werde.
Siehe auch:
· Fuchs-Heinritz, Werner et al. (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie. Opladen 31994, v.a. S. 334ff.
· Gubbay, Jon: A Marxist Critique of Weberian Class Analysis. In: Sociology 31/1997, S. 73-89.
· die Einträge 'Klasse' und 'Klassenkampf', in: Labica, Georges und Gérard Bensussan (Hrsg.): Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 4. Berlin 1986, S. 615ff. (hier abgekürzt mit KWM).
· Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. MEW 23. Berlin 1962 [Hamburg 1890].
· Marx, Karl: Die Klassen. In: Engels, Friedrich (Hrsg.): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. MEW 25. Berlin 1968 [Hamburg 1894], S. 892-893.
· Marx, Karl: Manifest der Kommunistischen Partei. Hrsg. und kommentiert von Theo Stammen. München 21978 [1848], (hier abgekürzt mit MKP).
· Ritsert, Jürgen: Soziale Klassen. Münster 1998, v.a. Kapitel 3 und 5.
· Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. München 2004 [Nachdruck der Fassung von 1920; Ersterscheinung 1904/1905].
· Weber, Max: Stände und Klassen. In: ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie (hier abgekürzt mit WuG). Tübingen 51980 [1922], S. 177-180.
· Weber, Max: Klassen, Stände, Parteien. In: ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen 51980 [1922], S. 531-540.
Mittwoch, Februar 07, 2007
Auflösung der Kritik in Religion ?
Sitzung Daniel zur ffm "Kritischen Theorie" vom 1. Februar 2007:
Protokoll* von Lorenz
2.6 Kritische Theorie oder die Auflösung der Kritik in Religion
- Daniel referiert Hennings Text: Bis weit in die 70er Jahre wurden Kritische Theorie und Marxismus weitgehend synonym verstanden. Heute jedoch wollen die Hauptvertreter davon kaum noch etwas wissen. Gründe dafür liegen – nach ihrem Selbstverständnis – im Versagen des Proletariats, in der Perversion des Kommunismus durch Stalin und in der Perversion der Zivilisation überhaupt durch Hitler.
Für Henning sind das keine (befriedigenden) Erklärungen. Er fragt nach theorieimmanenten Gründen.
2.6.1 Horkheimers Lebensphilosophie
- Daniel referiert: Unter Grünberg wurde im Institut für Sozialforschung zunächst empirisch die Geschichte der Arbeiterbewegung dokumentiert. Horkheimer hatte einen anderen Ansatz: Angestrebt wurde eine Theorie der Gesellschaft, entwickelt durch verschiedene Disziplinen unter philosophischer Führung. Die Mehrzahl der neuen Mitarbeiter war philosophisch geprägt; nur Pollock und Grossmann blieben als Fachökonomen. Daniel wirft die Frage auf, ob Fromm nicht – auch unter religiösem Gesichtspunkt – zu hereinzunehmen wäre.
Nach Henning war die Interdisziplinarität eher plakativ. Es habe außer mit Tillich keine Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern der Uni in Frankfurt gegeben. Daniel weist darauf hin, dass zumindest Adolph Löwe mit dem Institut zu tun gehabt habe.
- Daniel referiert weiter: Theorieimmanente Gründe für das Abrücken vom Marxismus liegen für Henning v. a. in der unvermittelten Eintragung marxistischer Kategorien in kulturelle Phänomene. Damit werden sie zu abstrakten Philosophemen, und die Theorie zu einer „Sozialphilosophie“. Es kommt zu einer Reduktion auf Kulturtheorie. Diese hat sich durchgesetzt, nicht die Ergebnisse konkreter interdisziplinärer Arbeit. Als vorbildhaft wird von Henning jedoch die Studie über den autoritären Charakter („The Authoritarian Personality“ [1950]) erwähnt.
- Mike weist darauf hin, dass schon in den 20er Jahren auf die Kleinfamilie verwiesen worden sei, deren autoritärer Zwangscharakter sich objektiviert hat. Dies hat als Hintergrundlektüre für die Entnazifizierung gedient. Uli fragt, inwiefern Adorno von der amerikanischen Sozialforschung beeinflusst worden sei. Die amerikanische Soziologie war damals schon empirisch. Gab es ein unmittelbares Interesse der Amerikaner? Wie lief die Finanzierung? Mike weist darauf hin, dass das erwähnte Werk mit dem Abdriften in Religion jedenfalls nichts zu tun habe.
- Uli weist auf S. 349 und auf den Anspruch von Horkheimer hin, Theorie nicht um ihrer selbst willen zu betreiben – dem er aber selbst nicht gerecht wird. Uli fragt, ob er sich damit nicht in der Linie von Grünberg befinde (der in Wahrheit selbst schon Theorie um ihrer selbst willen gemacht habe). Weiter hinterfragt Uli die Idee einer Forschung mit marxistischer Perspektive. Was ist die marxistische Perspektive, wenn man sich einem Gegenstand nähert?
- Daniel findet, dass Horkheimers Vorstellungen zur Theorie von Henning problematisch wiedergegeben werden. Mike sagt, dass er diese als ein Sich-lossagen von Marx auffasse. Uli betont, dass Henning sich nicht klar ist, dass schon bei Grünberg eine Spur gelegt ist, Theorie um ihrer selbst willen zu betreiben.
- Mike weist darauf hin, dass doch ein Bruch in der Geschichte des Instituts stattfinde. Plötzlich ist der Anspruch da, den Maxismus in Metaüberlegungen einzubetten. Man will philosophisch arbeiten, interdisziplinär. Im übrigen ist "Direktion" kräftig ausgeübt worden, etwa im Umgang mit Benjamin.
2.6.2 Pollocks hermetische Staatskapitalismus-Analyse
- Daniel referiert: Pollock war der Ökonom des Instituts; v.a. aufgrund seiner persönlichen Freundschaft zu Horkheimer.
(Später wird Pollock die "Dialektik der Aufklärung" gewidmet)
Gegen Grossmann vertrat Pollock die Auffassung, dass der Kapitalismus wegen der Anarchie zwischen den verschiedenen Sektoren des Marktes scheitert. Nach Marx gibt es diese Anarchie, aber es stellt sich ein Gleichgewicht ein. Pollock ruft jedoch im Hinblick auf den Nationalsozialismus (NS) eine neue Stufe aus: Der Monopolkapitalismus sei in den Staatskapitalismus überführt worden. In dieser Phase ist die Anarchie des Marktes politisch überwunden. Daraus ergibt sich ein Mangel an Krisen, und in der Folge eine Verstärkung des Pessimismus im Institut. Die Trennung von Fromm 1939 erfolgt auch aufgrund dieses Pessimismus: Fromm ist – auf Güte bestehend – zu hoffnungsvoll.
Von Pollock wurde ein totaler Klassenantagonismus unterstellt, gleichzeitig aber außer Kraft gesetzt, da das Proletariat versagt habe. Daraus ergab sich eine Ethisierung. Als einzige Ethik stand aber die des Liberalismus bereit, der wiederum als Wegbereiter zum Faschismus identifiziert wurde.
Bei Horkheimer gab es eine Vorstellung davon, was Vernunft sei. Vernünftig ist es etwa, den Arbeitsprozess planmäßig zu lenken. In Pollocks Deutung hat gerade der NS diese planmäßige Leitung vollbracht.
- Mike weist auf Lenins Wort vom Kriegskapitalismus hin (1. Weltkrieg). Gewerkschaftsspitzen und SPD haben Mitbestimmung in der Kriegsproduktion bekommen. Die Gewerkschaften erschienen als Transmissionsriemen vom ZK bis zum Produzenten. Die Preise waren garantiert, Auflagen und Produktion gelenkt. Man hatte einen Staatskapitalismus, der funktioniert. Doch ist der Zusammenhang zwischen Krieg und Kriegswirtschaft zu sehen: Der Staat kann unglaublich in Vorschuss gehen, solange er sich die Mittel in den besetzten Ländern zurückholt. Das ist also keine allgemeine Kapitalanalyse.
Henning muss attestiert werden, dass er das epochal Gültige herausarbeitet. Es ist das allgemeine Prinzip der Epoche, in der man lebt, herauszuarbeiten.
- Richard fragt nach der Bedeutung von „hermetisch“. Mike übersetzt mit „in sich abgeschlossen“. Der Gegensatz zu Marx liegt darin, dass hier nicht mehr über das System hinausgegangen wird. Es gibt keine Hoffnung mehr. Die Arbeiter unterstützen Hitler. Wo ist das revolutionäre Subjekt? Richard fragt nach einem Bezug des Wortes zu Geheimwissen (vom Altertum her); Mike weist einen solchen für den vorliegenden Kontext ab.
- Daniel findet diese Aussage Hennings ziemlich gewagt: „Diese Beschreibung des Nationalsozialismus entsprach genau der Vorstellung von ‚Vernunft’, die man einmal selbst vertreten hatte. Zusätzlich zu den persönlichen Katastrophen brachte der Nationalsozialismus das Institut so auch theoretisch in eine missliche Lage. Vielleicht war dies ein Grund, warum ihm so bereitwillig eine Zerstörung ‚der’ Vernunft zugeschrieben wurde: er hatte die eigene Theorie verunmöglicht.“ (S. 353). Uli unterstreicht: dies sei falsch. Was Horkheimer im Kopf hatte, ist nicht durch den NS eingelöst worden. Sein Vernunftideal ist nicht wirklich geworden.
- Mike weist darauf hin, dass die planmäßige Leitung der Produktion freilich bei Marx als Thema vorkomme. Dieser spricht von der "freien Assoziation der unmittelbaren Produzenten". Dieses demokratische Element ist weder im Stalinismus noch im NS drin. Dass der NS „genau diese“ Leitung der Produktion (die Horkheimer nach Henning im Sinn hatte) vollbrachte habe, ist von Henning überspitzt formuliert. Planvoll zu produzieren ist der Aufklärung nahe. Die Institutsmitglieder haben in den 30er Jahren die Marx’schen Frühschriften gelesen, wonach in der Aktion (Verbindung von philosophischer und praktischer Kritik) Antagonismen sich aufheben: Die Vorteile aller steigern sich, wenn alle an ihren Vorteil denken. (MR: wie ...?)
Es gab eine positivere Einstellung zur Vernunft, und die verdüstert sich. Wenn dann die (ökonomische) Theorie nicht fest ist, dann kann eine solche pessimistische Stimmung zur Triebfeder werden. Man sieht eine dunkle Seite in der Aufklärung selber. Es wird „dusterer und dusterer“. Sie hängen dazwischen (zwischen NS und Stalinismus).
- Daniel sagt, dass es in dieser Phase nach Henning nicht mehr um politische Praxis ging. Daniel weist auf S. 358/9 hin, wo Adorno und Horkheimer vorgeworfen wird, dass sie die Probleme allein in der Theorie verorten. Mike erinnert an den Hintergrund: Man hat den Zeitpunkt versäumt, die Proletarier sind übergelaufen. Die Verwirklichung der Philosophie ist passé. Dies „erhält sie am Leben“.
- Daniel weist auf ein Problem auf S. 359 hin: Man soll über die Theorie hinausgehen. Zugleich heißt es aber: „In der Wissenschaft selbst haben politische Wünsche oder normative Ansprüche, hat also eine philosophische ‚Führung’ wenig zu suchen. Gegen Parteiprogramme, die irgendeine ‚positive’ Philosophie vertraten, wehrte Marx sich daher vehement.“ Uli fragt, ob damit doch Theorie um ihrer selbst willen verlangt sei (von Marx her).
- Daniel sagt, dass besonders Horkheimer als kritischer Theoretiker sich bewusst sei, wie er in der Gesellschaft steht. Mike pflichtet bei: Es ist ein reflektierter eigener Standpunkt; man hat sich mitverortet. Aber der Unterschied ist: Bei Marx ist die philosophische Sichtweise in die politische Ökonomie mitgebracht. Es handelt sich also nicht um ein Ende der Philosophie, sondern um Philosophie in neuer Gestalt. Es bleibt aber Philosophie. (In Kontrast zur obigen Redeweise.)
Die Stelle mit dem „Augenblick“ (zit. S. 258) findet Mike religiös (kairos). Verpasster Kairos - Das ist dann eine Negative Theologie. - Daniel weist auf das Dilemma hin, vor dem Adorno/Horkheimer standen: Eigentlich könnte nur ein anderes Denken helfen. Das setzt aber voraus, dass das Tauschprinzip aufgehoben wird. Dies macht jedoch die totale Herrschaft unmöglich. Uli ergänzt: Die Leute, die die Verhältnisse verändern sollten, hängen von diesen lebenspraktisch ab. Mike sagt, wenn man dazu noch den Satz, dass das Sein das Bewusstsein bestimme, bedenke, zeige sich die Problematik deutlich. Sie müssten sich den eigenen Ast absägen. Uli verweist auf den Schluss von "Lohn, Preis, Profit": die Lohnarbeiter müssten das Lohnsystem abschaffen.
2.6.3 Adornos quietistischer Utopismus
- Daniel referiert: Nach der Neugründung 1949 verlässt man die ganz dunkle Seite. Es wird wieder von Vernunft gesprochen, die aber dialektisch sein müsse. Den Satz von Henning, dass die Kritische Theorie keine Theorie gewesen sei (S. 356), nennt Daniel eine starke These. Henning meint, dass es keine Theorie gegeben habe, wie es besser zu machen sei.
- Mike weist auf die Aussagen auf S. 357 hin: Horkheimer habe darunter gelitten, dass die Theorie nur negativ gewesen sei; Adorno habe eine Tugend daraus gemacht.
In diesem Zusammenhang gibt Mike einige Hinweise zur Person Hennings: Dieser wurde 1973 in Salzgitter geboren, hat 1992 Abi gemacht, dann Zivildienst in Dresden. 2003 hat er dort dissertiert, dann Stipendien bekommen. Er ist also fünf Jahre nach 68 erst geboren.
- Uli meint zur Fußnote auf S. 357, dass es schon toll gewesen wäre, wenn Horkheimer hätte sagen können, was falsch ist. Mike erwähnt, dass die Theorie tatsächlich immer abgehobener geworden sei. Sie wandte sich der Religionsphilosophie zu (Horkheimer), Adorno besonders der neuen Musik. Auch Medienschelte wurde betrieben; der Unterschied zwischen Authentizität und Konserve (beim Kunstwerk) betont. Sie hatten Einfluss mit solchen Sachen.
- Daniel weist auf S. 360 hin, wo eine Nähe zur Theologie behauptet wird. Es stellt sich die Frage, weshalb ein religiöser Standpunkt nicht referierbar sein soll. Richard problematisiert die Aussage zur „metaphysischen Verankerung“ von Bloch und Tillich: Ist diese als Erfordernis zu verstehen? Mike sagt, dass die Stelle so missverstanden wäre; zu verstehen ist: statt des Fehlers, metaphysisch zu werden, habe Adorno sich in eine Nähe zur Theologie gerückt.
- Richard fragt, ob es ein Zufall sei, dass dies vor allem in Form von Aphorismen passiert sei. Mike verneint. Der Aphorismus ist die Form nicht-systematischen Denkens. Es ist eine uralte Technik (schon bei den Vorsokratikern). Richard fragt nach, warum der religiöse Standpunkt nicht referierbar sei. Mike sagt, dies sei sicher falsch. Uli wirft ein, dass viele Aphorismen wunderbar seien. Man kann Erhellendes herausholen. Mike erinnert an das Diktum, der Wegweiser müsse den Weg nicht gehen.
- Daniel weist auf eine Aussage auf S. 361 hin: „Auch Horkheimer hat von diesem Spiel mit religiösen Chiffren Gebrauch gemacht.“ Kann man wirklich von einem Spiel mit religiösen Chiffren sprechen? Die Fußnote 77 wird darauf hin problematisiert: Mike erkennt darin lauter Schnippselchen. Uli meint, ein guter Lektor hätte (wie schon verschiedentlich erwähnt) dem Buch nicht geschadet. Der hätte vielleicht auch empfohlen, die Hälfte zu streichen. Grundsätzlich ist es aber erfreulich, dass man mit einer solchen Arbeit über Marx wieder Erfolg haben kann.
- Daniel weist auf Walter Benjamin hin, der am Schluss des Abschnitts erwähnt wird. Mike verweist auf S. 350, wo gesagt wird, dass Benjamin sich als einziger von Grossmann unterrichten ließ. Nur weil Pollock eine Hermetik produziert hat, konnten sich die anderen in ihren Arbeiten bestätigt finden. Benjamin hat’s mit Grossmann gehalten. Daniel hinterfragt den Satz, dass Benjamin die Wende zur Welt mitvollzogen habe (S. 361), besonders im Hinblick auf dessen Freund Scholem. Religiöser geht’s ja fast nicht. Mike pflichtet bei: Scholem hat eine „Re-Religiosierung“ der Philosophie vollzogen. Er ist Schriftgelehrter geworden. Das Quasi-Religiöse bei Adorno stört (Henning) wegen der Kritik von Marx am utopischen Sozialismus.
- Richard weist auf Strömungen im Protestantismus hin, die auch eine Entmythologisierung beabsichtigt haben. Diese erst mache frei, die Welt so zu sehen, wie sie ist (geht bis zu Sölle, Atheistische Theologie). Mike ergänzt, dass teilweise auch Glaube und Religion auseinandergehalten werde. Wenn man Glaube, Religion und Theologie trennt, ergibt sich hohe Komplexität. Zu S. 361 bemerkt er, dass Benjamin von Scholem - als religiöser Denker präsentiert wurde. Im kommenden Ref. von Martina wird es um ein volleres Benjamin Bild gehen.
Protokoll* von Lorenz
2.6 Kritische Theorie oder die Auflösung der Kritik in Religion
- Daniel referiert Hennings Text: Bis weit in die 70er Jahre wurden Kritische Theorie und Marxismus weitgehend synonym verstanden. Heute jedoch wollen die Hauptvertreter davon kaum noch etwas wissen. Gründe dafür liegen – nach ihrem Selbstverständnis – im Versagen des Proletariats, in der Perversion des Kommunismus durch Stalin und in der Perversion der Zivilisation überhaupt durch Hitler.
Für Henning sind das keine (befriedigenden) Erklärungen. Er fragt nach theorieimmanenten Gründen.
2.6.1 Horkheimers Lebensphilosophie
- Daniel referiert: Unter Grünberg wurde im Institut für Sozialforschung zunächst empirisch die Geschichte der Arbeiterbewegung dokumentiert. Horkheimer hatte einen anderen Ansatz: Angestrebt wurde eine Theorie der Gesellschaft, entwickelt durch verschiedene Disziplinen unter philosophischer Führung. Die Mehrzahl der neuen Mitarbeiter war philosophisch geprägt; nur Pollock und Grossmann blieben als Fachökonomen. Daniel wirft die Frage auf, ob Fromm nicht – auch unter religiösem Gesichtspunkt – zu hereinzunehmen wäre.
Nach Henning war die Interdisziplinarität eher plakativ. Es habe außer mit Tillich keine Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern der Uni in Frankfurt gegeben. Daniel weist darauf hin, dass zumindest Adolph Löwe mit dem Institut zu tun gehabt habe.
- Daniel referiert weiter: Theorieimmanente Gründe für das Abrücken vom Marxismus liegen für Henning v. a. in der unvermittelten Eintragung marxistischer Kategorien in kulturelle Phänomene. Damit werden sie zu abstrakten Philosophemen, und die Theorie zu einer „Sozialphilosophie“. Es kommt zu einer Reduktion auf Kulturtheorie. Diese hat sich durchgesetzt, nicht die Ergebnisse konkreter interdisziplinärer Arbeit. Als vorbildhaft wird von Henning jedoch die Studie über den autoritären Charakter („The Authoritarian Personality“ [1950]) erwähnt.
- Mike weist darauf hin, dass schon in den 20er Jahren auf die Kleinfamilie verwiesen worden sei, deren autoritärer Zwangscharakter sich objektiviert hat. Dies hat als Hintergrundlektüre für die Entnazifizierung gedient. Uli fragt, inwiefern Adorno von der amerikanischen Sozialforschung beeinflusst worden sei. Die amerikanische Soziologie war damals schon empirisch. Gab es ein unmittelbares Interesse der Amerikaner? Wie lief die Finanzierung? Mike weist darauf hin, dass das erwähnte Werk mit dem Abdriften in Religion jedenfalls nichts zu tun habe.
- Uli weist auf S. 349 und auf den Anspruch von Horkheimer hin, Theorie nicht um ihrer selbst willen zu betreiben – dem er aber selbst nicht gerecht wird. Uli fragt, ob er sich damit nicht in der Linie von Grünberg befinde (der in Wahrheit selbst schon Theorie um ihrer selbst willen gemacht habe). Weiter hinterfragt Uli die Idee einer Forschung mit marxistischer Perspektive. Was ist die marxistische Perspektive, wenn man sich einem Gegenstand nähert?
- Daniel findet, dass Horkheimers Vorstellungen zur Theorie von Henning problematisch wiedergegeben werden. Mike sagt, dass er diese als ein Sich-lossagen von Marx auffasse. Uli betont, dass Henning sich nicht klar ist, dass schon bei Grünberg eine Spur gelegt ist, Theorie um ihrer selbst willen zu betreiben.
- Mike weist darauf hin, dass doch ein Bruch in der Geschichte des Instituts stattfinde. Plötzlich ist der Anspruch da, den Maxismus in Metaüberlegungen einzubetten. Man will philosophisch arbeiten, interdisziplinär. Im übrigen ist "Direktion" kräftig ausgeübt worden, etwa im Umgang mit Benjamin.
2.6.2 Pollocks hermetische Staatskapitalismus-Analyse
- Daniel referiert: Pollock war der Ökonom des Instituts; v.a. aufgrund seiner persönlichen Freundschaft zu Horkheimer.
(Später wird Pollock die "Dialektik der Aufklärung" gewidmet)
Gegen Grossmann vertrat Pollock die Auffassung, dass der Kapitalismus wegen der Anarchie zwischen den verschiedenen Sektoren des Marktes scheitert. Nach Marx gibt es diese Anarchie, aber es stellt sich ein Gleichgewicht ein. Pollock ruft jedoch im Hinblick auf den Nationalsozialismus (NS) eine neue Stufe aus: Der Monopolkapitalismus sei in den Staatskapitalismus überführt worden. In dieser Phase ist die Anarchie des Marktes politisch überwunden. Daraus ergibt sich ein Mangel an Krisen, und in der Folge eine Verstärkung des Pessimismus im Institut. Die Trennung von Fromm 1939 erfolgt auch aufgrund dieses Pessimismus: Fromm ist – auf Güte bestehend – zu hoffnungsvoll.
Von Pollock wurde ein totaler Klassenantagonismus unterstellt, gleichzeitig aber außer Kraft gesetzt, da das Proletariat versagt habe. Daraus ergab sich eine Ethisierung. Als einzige Ethik stand aber die des Liberalismus bereit, der wiederum als Wegbereiter zum Faschismus identifiziert wurde.
Bei Horkheimer gab es eine Vorstellung davon, was Vernunft sei. Vernünftig ist es etwa, den Arbeitsprozess planmäßig zu lenken. In Pollocks Deutung hat gerade der NS diese planmäßige Leitung vollbracht.
- Mike weist auf Lenins Wort vom Kriegskapitalismus hin (1. Weltkrieg). Gewerkschaftsspitzen und SPD haben Mitbestimmung in der Kriegsproduktion bekommen. Die Gewerkschaften erschienen als Transmissionsriemen vom ZK bis zum Produzenten. Die Preise waren garantiert, Auflagen und Produktion gelenkt. Man hatte einen Staatskapitalismus, der funktioniert. Doch ist der Zusammenhang zwischen Krieg und Kriegswirtschaft zu sehen: Der Staat kann unglaublich in Vorschuss gehen, solange er sich die Mittel in den besetzten Ländern zurückholt. Das ist also keine allgemeine Kapitalanalyse.
Henning muss attestiert werden, dass er das epochal Gültige herausarbeitet. Es ist das allgemeine Prinzip der Epoche, in der man lebt, herauszuarbeiten.
- Richard fragt nach der Bedeutung von „hermetisch“. Mike übersetzt mit „in sich abgeschlossen“. Der Gegensatz zu Marx liegt darin, dass hier nicht mehr über das System hinausgegangen wird. Es gibt keine Hoffnung mehr. Die Arbeiter unterstützen Hitler. Wo ist das revolutionäre Subjekt? Richard fragt nach einem Bezug des Wortes zu Geheimwissen (vom Altertum her); Mike weist einen solchen für den vorliegenden Kontext ab.
- Daniel findet diese Aussage Hennings ziemlich gewagt: „Diese Beschreibung des Nationalsozialismus entsprach genau der Vorstellung von ‚Vernunft’, die man einmal selbst vertreten hatte. Zusätzlich zu den persönlichen Katastrophen brachte der Nationalsozialismus das Institut so auch theoretisch in eine missliche Lage. Vielleicht war dies ein Grund, warum ihm so bereitwillig eine Zerstörung ‚der’ Vernunft zugeschrieben wurde: er hatte die eigene Theorie verunmöglicht.“ (S. 353). Uli unterstreicht: dies sei falsch. Was Horkheimer im Kopf hatte, ist nicht durch den NS eingelöst worden. Sein Vernunftideal ist nicht wirklich geworden.
- Mike weist darauf hin, dass die planmäßige Leitung der Produktion freilich bei Marx als Thema vorkomme. Dieser spricht von der "freien Assoziation der unmittelbaren Produzenten". Dieses demokratische Element ist weder im Stalinismus noch im NS drin. Dass der NS „genau diese“ Leitung der Produktion (die Horkheimer nach Henning im Sinn hatte) vollbrachte habe, ist von Henning überspitzt formuliert. Planvoll zu produzieren ist der Aufklärung nahe. Die Institutsmitglieder haben in den 30er Jahren die Marx’schen Frühschriften gelesen, wonach in der Aktion (Verbindung von philosophischer und praktischer Kritik) Antagonismen sich aufheben: Die Vorteile aller steigern sich, wenn alle an ihren Vorteil denken. (MR: wie ...?)
Es gab eine positivere Einstellung zur Vernunft, und die verdüstert sich. Wenn dann die (ökonomische) Theorie nicht fest ist, dann kann eine solche pessimistische Stimmung zur Triebfeder werden. Man sieht eine dunkle Seite in der Aufklärung selber. Es wird „dusterer und dusterer“. Sie hängen dazwischen (zwischen NS und Stalinismus).
- Daniel sagt, dass es in dieser Phase nach Henning nicht mehr um politische Praxis ging. Daniel weist auf S. 358/9 hin, wo Adorno und Horkheimer vorgeworfen wird, dass sie die Probleme allein in der Theorie verorten. Mike erinnert an den Hintergrund: Man hat den Zeitpunkt versäumt, die Proletarier sind übergelaufen. Die Verwirklichung der Philosophie ist passé. Dies „erhält sie am Leben“.
- Daniel weist auf ein Problem auf S. 359 hin: Man soll über die Theorie hinausgehen. Zugleich heißt es aber: „In der Wissenschaft selbst haben politische Wünsche oder normative Ansprüche, hat also eine philosophische ‚Führung’ wenig zu suchen. Gegen Parteiprogramme, die irgendeine ‚positive’ Philosophie vertraten, wehrte Marx sich daher vehement.“ Uli fragt, ob damit doch Theorie um ihrer selbst willen verlangt sei (von Marx her).
- Daniel sagt, dass besonders Horkheimer als kritischer Theoretiker sich bewusst sei, wie er in der Gesellschaft steht. Mike pflichtet bei: Es ist ein reflektierter eigener Standpunkt; man hat sich mitverortet. Aber der Unterschied ist: Bei Marx ist die philosophische Sichtweise in die politische Ökonomie mitgebracht. Es handelt sich also nicht um ein Ende der Philosophie, sondern um Philosophie in neuer Gestalt. Es bleibt aber Philosophie. (In Kontrast zur obigen Redeweise.)
Die Stelle mit dem „Augenblick“ (zit. S. 258) findet Mike religiös (kairos). Verpasster Kairos - Das ist dann eine Negative Theologie. - Daniel weist auf das Dilemma hin, vor dem Adorno/Horkheimer standen: Eigentlich könnte nur ein anderes Denken helfen. Das setzt aber voraus, dass das Tauschprinzip aufgehoben wird. Dies macht jedoch die totale Herrschaft unmöglich. Uli ergänzt: Die Leute, die die Verhältnisse verändern sollten, hängen von diesen lebenspraktisch ab. Mike sagt, wenn man dazu noch den Satz, dass das Sein das Bewusstsein bestimme, bedenke, zeige sich die Problematik deutlich. Sie müssten sich den eigenen Ast absägen. Uli verweist auf den Schluss von "Lohn, Preis, Profit": die Lohnarbeiter müssten das Lohnsystem abschaffen.
2.6.3 Adornos quietistischer Utopismus
- Daniel referiert: Nach der Neugründung 1949 verlässt man die ganz dunkle Seite. Es wird wieder von Vernunft gesprochen, die aber dialektisch sein müsse. Den Satz von Henning, dass die Kritische Theorie keine Theorie gewesen sei (S. 356), nennt Daniel eine starke These. Henning meint, dass es keine Theorie gegeben habe, wie es besser zu machen sei.
- Mike weist auf die Aussagen auf S. 357 hin: Horkheimer habe darunter gelitten, dass die Theorie nur negativ gewesen sei; Adorno habe eine Tugend daraus gemacht.
In diesem Zusammenhang gibt Mike einige Hinweise zur Person Hennings: Dieser wurde 1973 in Salzgitter geboren, hat 1992 Abi gemacht, dann Zivildienst in Dresden. 2003 hat er dort dissertiert, dann Stipendien bekommen. Er ist also fünf Jahre nach 68 erst geboren.
- Uli meint zur Fußnote auf S. 357, dass es schon toll gewesen wäre, wenn Horkheimer hätte sagen können, was falsch ist. Mike erwähnt, dass die Theorie tatsächlich immer abgehobener geworden sei. Sie wandte sich der Religionsphilosophie zu (Horkheimer), Adorno besonders der neuen Musik. Auch Medienschelte wurde betrieben; der Unterschied zwischen Authentizität und Konserve (beim Kunstwerk) betont. Sie hatten Einfluss mit solchen Sachen.
- Daniel weist auf S. 360 hin, wo eine Nähe zur Theologie behauptet wird. Es stellt sich die Frage, weshalb ein religiöser Standpunkt nicht referierbar sein soll. Richard problematisiert die Aussage zur „metaphysischen Verankerung“ von Bloch und Tillich: Ist diese als Erfordernis zu verstehen? Mike sagt, dass die Stelle so missverstanden wäre; zu verstehen ist: statt des Fehlers, metaphysisch zu werden, habe Adorno sich in eine Nähe zur Theologie gerückt.
- Richard fragt, ob es ein Zufall sei, dass dies vor allem in Form von Aphorismen passiert sei. Mike verneint. Der Aphorismus ist die Form nicht-systematischen Denkens. Es ist eine uralte Technik (schon bei den Vorsokratikern). Richard fragt nach, warum der religiöse Standpunkt nicht referierbar sei. Mike sagt, dies sei sicher falsch. Uli wirft ein, dass viele Aphorismen wunderbar seien. Man kann Erhellendes herausholen. Mike erinnert an das Diktum, der Wegweiser müsse den Weg nicht gehen.
- Daniel weist auf eine Aussage auf S. 361 hin: „Auch Horkheimer hat von diesem Spiel mit religiösen Chiffren Gebrauch gemacht.“ Kann man wirklich von einem Spiel mit religiösen Chiffren sprechen? Die Fußnote 77 wird darauf hin problematisiert: Mike erkennt darin lauter Schnippselchen. Uli meint, ein guter Lektor hätte (wie schon verschiedentlich erwähnt) dem Buch nicht geschadet. Der hätte vielleicht auch empfohlen, die Hälfte zu streichen. Grundsätzlich ist es aber erfreulich, dass man mit einer solchen Arbeit über Marx wieder Erfolg haben kann.
- Daniel weist auf Walter Benjamin hin, der am Schluss des Abschnitts erwähnt wird. Mike verweist auf S. 350, wo gesagt wird, dass Benjamin sich als einziger von Grossmann unterrichten ließ. Nur weil Pollock eine Hermetik produziert hat, konnten sich die anderen in ihren Arbeiten bestätigt finden. Benjamin hat’s mit Grossmann gehalten. Daniel hinterfragt den Satz, dass Benjamin die Wende zur Welt mitvollzogen habe (S. 361), besonders im Hinblick auf dessen Freund Scholem. Religiöser geht’s ja fast nicht. Mike pflichtet bei: Scholem hat eine „Re-Religiosierung“ der Philosophie vollzogen. Er ist Schriftgelehrter geworden. Das Quasi-Religiöse bei Adorno stört (Henning) wegen der Kritik von Marx am utopischen Sozialismus.
- Richard weist auf Strömungen im Protestantismus hin, die auch eine Entmythologisierung beabsichtigt haben. Diese erst mache frei, die Welt so zu sehen, wie sie ist (geht bis zu Sölle, Atheistische Theologie). Mike ergänzt, dass teilweise auch Glaube und Religion auseinandergehalten werde. Wenn man Glaube, Religion und Theologie trennt, ergibt sich hohe Komplexität. Zu S. 361 bemerkt er, dass Benjamin von Scholem - als religiöser Denker präsentiert wurde. Im kommenden Ref. von Martina wird es um ein volleres Benjamin Bild gehen.
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