Montag, Oktober 31, 2011

Ivan Glaser zum KAPITAL

Nachbemerkung nach der nochmaligen Lektüre von Rubel zwischen dem 23.10. und dem 31.10.2011

An mehreren Stellen auf den letzten Seiten der Introduction von Rubel zu seiner Ausgabe bzw. Übersetzung des „Kapital“ finden sich Hinweise darauf, dass sich Marx in der Tat auf der Suche nach zusätzlichem Illustrationsmaterial für die Bücher 2 und 3 befand. Ich dokumentiere das unten unter 2.

Vorweg stelle ich fest: die Position von Rubel im Hinblick auf Marxens Arbeit am „Kapital“ nach 1867 ist insgesamt fundierter als die von Borkenau. Dies obwohl Rubel nicht sieht, dass das Jahr 1871 eine ernstzunehmende Zäsur darstellt.

Diese Zäsur bezieht sich auf die Arbeit an Entwürfen für das 2. und das 3. Buch. Die Intensität der Arbeit lässt nach. Die Manuskripte bleiben liegen. Das Ms. VIII und die mathematische Arbeit zur Profitrate, beide von Marx in seinen letzten Lebensjahren verfasst, gehören thematisch zum 3. bzw. zum 2. Buch, aber es sind selbständige Schriften.

Es ist doch schade, dass das Ms. VIII nur in der MEGA publiziert ist und auf diese Weise nur einem kleineren Kreis der interessierten Leser jederzeit zugänglich ist. Denn bei diesem Manuskript handelt es sich um die letzte zusammenhängende Arbeit von Marx zur Thematik des „Kapital“. Die Ausgabe des 2. Buches durch Engels stellt eine eigentümliche Barriere für denjenigen dar, der gerne das Manuskript auf sich wirken lassen möchte. (Engels hat das Manuskript fast vollständig bei der Redaktion und Veröffentlichung des 2 Buches, insbesondere im 3. Abschnitt, ausgeschöpft. Er hat es aber in kleinere Partien zerlegt und diese, mit Auszügen aus anderen Manuskripten vermischt, in einer Anordnung, die von jener im Manuskript abweicht, abgedruckt.)

Aber Marx hat an seinem Werk festgehalten. Daran kann vernünftigerweise nicht gezweifelt werden. Auf der einen Seite hat er eine zweite deutsche Ausgabe des ersten Bandes vorbereitet (ershienen im Jahr 1873) und sich an seiner Übersetzung ins französische beteiligt (ershienen im Jahr 1875), beides nicht ohne inhaltlich zu intervenieren. Und auf der anderen Seite war sein Entwurf zum dritten Buch weit von einer druckreifen Fassung entfernt. Was Marx da hinterlassen hat, kann inzwischen direkt der MEGA entnommen werden. Aber bereits Engels hat im Vorwort zur Edition des dritten Bandes ausführlich den weit von der Vollendung entfernten Zustand des ihm vorliegenden Textes geschildert. Borkenau unterstellt, Marx habe nach 1871 ein fast fertiggestelltes Buch in seiner Schublade aufbewahrt und der Öffentlichkeit vorenthalten. Aus inhaltlichen Vorbehalten. Dass auch Vorbehalte eine Rolle spielten, wollen wir unten unter 3 ansprechen. Sie mögen Marx gelähmt haben. Aber eine Irreführung der potenziellen Leserschaft und der Anhängerschaft - wie es sich bei Borkenau anhört- lag nicht vor.


Im Einzelnen erfordern folgende Fragen Klärung:

1. Wieso wurde der erste Band (dazu noch, abweichend von manchen Ankündigungen von Marx, nur das Buch 1 enthaltend) selbständig veröffentlicht?
2. Wo gibt es Nachweise dafür, dass Marx sich um das Illustrationsmaterial für die Bücher 2 und 3 bemühte?
3. Waren sich Marx und der ihm bei der Verfassung des „Kapital“ als Ratgeber stets zur Seite stehende Engels dessen bewusst, dass man den Charakter und die Tragweite des Inhalts der Bücher 2 und 3 wird dem kritischen Leser nur schwer vermitteln können?

Zu 1. Noch am 31. Juli 1865 bei der Arbeit wohl am Entwurf zum 3. Buch des „Kapital“ teilt Marx Engels mit, er könne das Werk nicht in Partien veröffentlichen. Das Werk sei ein artistisches Ganzes und würde das nicht zulassen. Mag sein, dass Engels bereits damals eine sukzessive Publikation der einzelnen Partien anregte. Es lässt sich belegen, dass er das ein Jahr später tat. Und Marx griff nun seinen Vorschlag auf – voraussetzend, sein Verleger Meißner wird keine Schwierigkeiten machen. Dem war aber nicht so. Meißner verwahrte sich gegen diese Idee und erklärte sich nur bereit, mit dem Druck zu beginnen , wenn er das ganze Werk in Händen hat.

An dieser Stelle ist es nicht schlecht daran zu erinnern, dass Marxens Pläne sich auf die Veröffentlichung von aus voraussichtlich auf zwei Bände sich verteilenden drei oder vier Büchern bezogen. Zu den uns vertrauten drei Büchern hätte sich ein weiteres, viertes Buch hinzugesellen sollen, das nicht systematischer sondern literaturhistorischer Natur hätte sein sollen. Die Idee wurde auch von Engels weiterverfolgt und schließlich auch insofern realisiert, als Karl Kautsky Teile des in den Jahren 1861-63 entstandenen Entwurfes unter dem Titel „Theorien über den Mehrwert“ im Jahre 1910 veröffentlichte.

Zurück zum Verleger des „Kapital“ Otto Meißner. Mit ihm hatte Marx im März 1865 einen Vertrag abgeschlossen, wonach Marx bis Ende Mai des gleichen Jahres das ganze Werk liefern werde, welches in zwei Bänden erscheinen soll. Wenn Marx 1967 in seinen Verhandlungen mit Meißner verlangte, dass ein von ihm im Jahr 1866 an den Verleger übersandter Text gedruckt werde, so verstand Marx damals noch unter dem Band 1 ein Werk, das die Bücher 1 und 2 hätte enthalten sollen und dessen Anfang (genauer: vermutlich die Abschnitte, damals Kapitel, 1-5) der Text enthielt.

Meißner wehrte sich, er blieb hartnäckig. Er wollte nicht mit dem Druck beginnen, bevor er das ganze Werk von Marx erhalten habe. Erst als Marx ihn im Frühjahr 1867 in Hamburg besuchte und ihm ein Manuskript überreichte, von dem er behauptete, dass es das erste Buch abrundet, ließ sich Meißner weich machen und stimmte dem Vorschlag zu, wonach der erste Band selbständig erscheinen wird. Was den zeitlichen Abstand zur Lieferung der Fortsetzungsmanuskripte betrifft, machte Marx Meißner gegenüber ganz unrealistische Aussagen.

Dabei bekam Meißner von Marx nicht die Bücher 1 und 2, sondern nur das Buch 1. Und auch dieses Buch hatte nicht den geplanten Umfang. Ein Abschnitt (in der damaligen Einteilung als Kapitel bezeichnet) wurde Meißner vorenthalten. Daraus kann geschlossen werden, dass Marx unbedingt veröffentlichen wollte, den Umfang des Publizierten aber möglichst klein halten wollte: erst nur einen Teil des 1. Buches (anstatt der beiden Bücher 1 und 2). Dann vorgeblich das 1. Buch vollständig. Ein Abschnitt fehlte aber immer noch. Nur besaß Meißner keinen Einblick in feinere Gliederungsangelegenheiten, so dass er sich schließlich ohne es zu durchschauen mit einem unvollständigen Text des 1. Buches begnügte.

Gegenüber meinen unglücklichen Behauptungen, dass Marx den theoretischen Gehalt seines Werkes hinter den herangezogenen historischen Illustrationen zu verstecken versuchte, möchte ich hier auf die Äußerung von Marx (im Brief an J. Ph. Becker vom 17. April 1867, geschrieben also im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit seinem Besuch bei Meißner) hinweisen, wonach das 1. Buch theoretisch einen verheerenden Schlag auf den Kopf der Bourgeoisie darstelle. Wie kann das gemeint gewesen sein? Es lohnt sich, dieser Frage nachzugehen, auch wenn Marx mit seiner Äußerung sein Vorgehen rechtfertigen wollte, wonach der erste Band für sich erscheint. Das zeigt sich u.a. daran, dass Marx im gleichen Brief Becker gegenüber seine Hoffnung ausdrückt, bereits im nächsten Jahr werde das ganze Werk, also neben dem zweiten auch ein dritter, das 3. Buch enthaltender Band, publiziert sein.

Hier der Versuch einer Antwort: Für Marx stellen einen Kern seines Werkes die Gleichstellungen von Wert und Arbeit, von Mehrwert und Mehrarbeit dar. Die Bände 2 und 3 sollen die erforderliche theoretische Fortsetzung auf der damit begonnenen Linie liefern. Aus ihnen wird sich ergeben, dass der Gewinn in all seinen Ausformungen (neben dem industriellen Profit also auch der Zins und die Grundrente) sich aus der Differenz speist zwischen dem Produktwert und dem Wert der Arbeitskraft. Die grundlegende Aufhellung dieses Punktes macht in den Augen von Marx bereits aus der Publikation des 1. Buches ein erstrangiges Ereignis. Also hätte es dafür keiner Illustrationen bedurft, obwohl auch sie die Wucht des Schlages verstärkten. Das hatte Marx – wenn man auf einen größeren Zeitraum zurückblickt – richtig eingeschätzt.

Zu 2. Nachweise dafür, dass Marx sich um das Illustrationsmaterial für die Bücher 2 und 3 bemühte, findet der Leser der Introduction auf den Seiten CXVIII f. Im Frühjahr 1868 Marx beklagt Engels gegenüber, es fehlen ihm dokumentarische Quellen. In der Ökonomie differieren die maßgeblichen Fakten erheblich von theoretischen Postulaten. Daher müsse er die nötigen Materialien sammeln (Brief an Engels vom 16. Mai 1868). Im Einklang damit drängt Marx seine in der Ferne wohnenden Freunde, ihn mit Material zu den Voraussetzungen, unter denen die landwirtschaftliche Produktion in den USA stattfindet, zu versehen, das einen anti-bourgeoisen Charakter trägt, so in einem am 4. Juli 1868 verfassten Brief an A. S. Meyer, in dem er auf seine Arbeit am 2. Band verweist.

Zu 3. Dass sich Marx oder zumindest der ihm bei der Verfassung des „Kapital“ als Ratgeber stets zur Seite stehende Engels dessen bewusst waren, dass man den Charakter und die Tragweite des Inhalts der Bücher 2 und 3 wird dem kritischen Leser schwer vermitteln können, darüber informiert Rubel die Leser seiner Introduction auf der Seite CXXIII. Das von Rubel verwendete Material bezieht sich auf die Zeit nach Marxens Tod, in der Engels an der Edition der Bücher 2 und 3 arbeitete. In seinen Briefen an Kautsky und Lavrov aus dem Zeitraum zwischen September 1883 und Juni 1884 macht Engels die Voraussage, wonach das zweite Buch die Vulgärsozialisten arg enttäuschen wird. Denn es enthalte – und das sind Äußerungen, die Engels mehrfach wiederholen wird – fast ausschließlich sehr subtile und streng wissenschaftlich ausgerichtete Untersuchungen über Angelegenheiten, die sich innerhalb der Klasse der Kapitalisten abspielen. Also nichts, woraus man spektakuläre Formeln oder Deklamationen herleiten könnte (Brief an Kautsky vom 18. September 1883). Das zweite Buch sei rein wissenschaftlich und behandelt Fragen, die sich im Verhältnis des einen Bourgeois zum anderen stellen (Brief an Lavrov vom 5. Februar 1884). Engels fügt hinzu, das dritte Buch werde dagegen Passagen enthalten, von denen er sich fragt, ob es unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes in Deutschland werden überhaupt publiziert werden können. Hier, so meint Rubel, kommt womöglich zum Ausdruck, dass Engels selbst vom Inhalt des Nachlasses enttäuscht war. Und dass er versucht, sich selbst zu trösten.

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